Ursachen

Hierbei muss man zwischen den Begriffen trennen – der Ursache für den Genotyp (das zusätzliche X-Chromosom) und den Ursachen für den Phänotyp (Testosteronmangel, psychische Auswirkungen).

1. Das zusätzliche X-Chromosom

Gewöhnlich besteht der Chromosomensatz eines Mannes aus 22 Autosomenpaaren und zwei Gonosomen (X und Y). Während der Meiose der Fortpflanzungszellen trennen sich die Geschlechtschromosomen nicht, bei der Befruchtung ergibt sich der Chromosomensatz XXY. Sowohl Mutter als auch Vater können das zusätzliche X-Chromosom beisteuern (Skuse et al., 1997; van Rijn et al., 2008), inwiefern sich daraus Auswirkungen auf den Phänotyp ergeben, ist bisher noch nicht geklärt. Die Mehrheit der Männer zeigt aufgrund des vorhandenen Y-Chromosoms eindeutig männliche Geschlechtsmerkmale. XXY wird auch bei Haus- und Wildtieren beobachtet, bei Katzen 39,XXY und bei Mäusen 41,xxy.

2. Der unterschiedliche Phänotyp von XXY-Männern

2.1 Die X-Inaktivierung

Das zusätzliche X-Chromosom verursacht also den Phänotyp, aber ganz so einfach ist es nicht. Bei normalen Zellen, die mehr als ein X-Chromosom enthalten, ist ein X immer inaktiv. Diese Inaktivierung geschieht bereits bei der embryonalen Entwicklung und hinterlässt nur ein funktionierendes X-Chromosom in jeder Körperzelle. Das verbleibende, inaktivierte X-Chromosom wird „Barr-Körperchen“ genannt, seine Gene tragen nicht zur Funktion der Zelle bzw. des gesamten Körpers bei.

X-Inaktivierung geschieht genauso bei XXY-Männern, nach der Inaktivierung verbleibt die Anzahl der aktiven Gene bei 46, XY und einem inaktiven X-Chromosom, dem Barr-Körperchen.

Wenn aber durch durch Inaktivierung der aktive Chromosomensatz genauso lautet wie der von reinen 46,XY-Männern, woher kommen dann Testosteronmangel, Unfruchtbarkeit und die anderen Auswirkungen? Die X-Inaktivierung des Barr-Körperchen ist nicht vollständig: Eine kleine Zahl der Gene bleibt wirksam und je nach dem, welche Gene aktiv bleiben, ist der Phänotyp ausgeprägter.

2.2 Genmutationen

Weitere Genmechanismen erscheinen plausibel. Von den aktiven Genen des Barr-Körperchens ist bisher nur ein Gen als einflussreich auf den Phänotyp nachgewiesen, das „kurze-Statur-Homöobox-enthaltene“ Gen auf dem Chromosom X (SHOX), das sich auf der pseudoautosomalen Region 1 auf Xp befindet. SHOX spielt eine Rolle bei der Ausbildung der Gliedmaßen und Knochenveränderungen und sorgt für das leicht gesteigerte Wachstum bei 47,XXY, 47,XXX und 47,XYY. BNP und FGFR3 sind transkriptorische Ziele von SHOX.
  • Brain natriuretic peptide (BNP) ist ein Hormon, das bei Dehnung von Herzkammern von den Herzmuskelzellen gebildet wird und dient als diagnostischer Marker für Herzinsuffizienz.
  • Fibroplast growth factor receptor 3 (FGFR3) ist ein Protein und wird durch das gleichnamige Gen verschlüsselt, es spielt eine Rolle bei der Knochenentwicklung und -aufrechterhaltung.

Die CAG REPEAT Anzahl im Androgen-Rezeptor (das AR-GEN liegt auf dem X-Chromosom) scheint mit manchen phänotypischen Eigenheiten zusammenzuhängen, wie Körpergröße und Anteil der roten Blutkörperchen im Blut (Hämatokrit), während es zweifelhafter erscheint, ob das mütterliche oder väterliche zusätzliche X den Phänotyp beeinflusst.

Mehr als 10 % der Gene, die auf dem X-Chromosom sitzen, äußern sich durch die Hoden und spielen deshalb wahrscheinlich eine Rolle beim Klinefelter-Syndrom.

2.3 Einfluss der Copy Number Variations (CNV) auf dem X-Chromosom

Nach einer Studie von Rocca et al. (2016) hat man den Einfluss der CNVs auf den Phänotyp von KS untersucht.

CNVs sind Verdopplungen, Löschungen oder Neureihungen von Abschnitten der DNA. Diese Variationen, die sich sowohl in der Länge als auch Position unterscheiden, können die Genfunktion unterbrechen. Manche werden vererbt, andere entstehen spontan („de novo“). Bei Autisten kommen unterbrochene Gene häufiger vor als in den Kontrollgruppen. Jedes Kind zeigt unterschiedliche Störungen in unterschiedlichen Genen. Man weiß jedoch immer noch nicht, ob eine Mutation ein spezifisches Verhalten hervorruft, oder ob ein spezifisches Verhalten eine Vielzahl von Mutationen benötigt. Zunehmend setzt sich jedoch die “multiple hit“-Hypothese durch, d.h. mehrere Mutationen müssen aufeinandertreffen. Die Gehirnentwicklung reagiert offenbar äußerst sensibel auf ein Ungleichgewicht bei der Gendosierung (Anzahl der Kopien eines Gens in einer Zelle).

(übersetzt aus Temple Grandin, The Autistic Brain)

 

Einen Teil der klinischen Variabilität vermutet man in der unterschiedlichen Ausprägung der Hodenfunktion, genetische Mechanismen durch das überzählige X-Chromosomen können jedoch ebenfalls dazu beitragen.

Bisher hat man dazu Gendosierungseffekte (s.o. und Nr.4) sowie die Frage, ob man das überzählige X-Chromosom von der Mutter oder vom Vater stammt, betrachtet. Es gab jedoch bislang noch keine Studie zum Einfluss von CNV auf den Phänotyp. Zu diesem Zweck hat man SNP-array-Analysen bei 94 Klinefelter-Patienten und 85 Kontrollpersonen (darunter 42 Frauen und 43 Männer) durchgeführt.

Folgende Ergebnisse:

  1. Bei KS kommen X-linked CNVs häufiger (41,5 % gegenüber 29 bzw. 19 %) vor als in der Kontrollgruppe.
  2. Die Anzahl der X-linked CNVs lag mit durchschnittlich 4,5 pro Person deutlich höher als bei XX-Frauen (1,5) und XY-Männern (1,1)
  3. Bei 94 % der X-linked CNVs bei KS handelte es sich um Verdopplungen, aber nur bei 50 % der XX-Männer und 83 % der Frauen.
  4. Die Hälfte der X-linked CNVs fiel auf Regionen mit Genen und die meisten davon (90%) beinhalteten Gene, die der X-Inaktivierung in der XY-Homologie entkamen, speziell in der pseudoautosomalen Region 1 (PAR1) und Xq21.31 (vgl. 2.2), d.h., es handelt sich hier um aktive Gene des Barr-Körperchens.

Laienhafte Schlussfolgerung:

Die CNVs manifestieren sich als Verdopplungen auf Genen, die nicht von der X-Inaktivierung betroffen sind, d.h., sie können den Phänotyp von 47,XXY mitbeinflussen.

Weitere mögliche genetische Ursachen:

1. Verschobene X-Inaktivierung („skewed x-inactivation“)

Studie von Skakkebaek A. et al., Neuroanatomical correlates of Klinefelter syndrome studied in relation to the neuropsychological profile, NeuroImage: Clinical4 (2014) 1-9 (Volltext)

Ergebnis: Verschobene X-Inaktivierung, sowie Herkunft des X-Chromosom vom Vater oder Mutter und die Länge des Androgenrezeptors (CAG-repeat length) spielen keine Rolle, zumindest nicht für die psychologischen Auffälligkeiten

2. Chromosomenbruch

Ein Chromosomenbruch habe nichts mit XXY zu tun (nach Aussage einer Humangenetikerin).

3. Hormonungleichgewicht vor der Geburt beeinflusst Gehirn

Theorie für Autismus (zu viel Testosteron) bzw. für 47,XXY und 45,XO nach

Werling D.M. and Geschwind, D.H.: Sex differences in autism spectrum disorders , Curr Opin Neurol. Apr 2013; 26(2): 146–153. (Volltext online)

In Neugeborenen mit 47,XXY hat man bisher durchschnittlich normale Testosteronwerte gemessen, keine eindeutigen Abweichungen nach unten/oben, während der Kindheit sind die Hormonwerte meist normal und sinken erst ab der Pubertät ab bzw. steigen nicht an. Mir unklar: Von wievielen Föten mit xxy hat man überhaupt testosteronwerte gemessen?

Welchen Einfluss hat die Umwandlung von Testosteron in Östrogen durch das Enzym Aromatase?

We further show that aromatase protein is significantly reduced in the frontal cortex of autistic subjects relative to sex- and age-matched controls, and is strongly correlated with RORA protein levels in the brain.

Sarachana et al., Sex Hormones in Autism: Androgens and Estrogens Differentially and Reciprocally Regulate RORA, a Novel Candidate Gene for Autism, PLoS One. 2011; 6(2): e17116. (Volltext online)

Hintergrund der Erwähnung

In den USA möchte man die Umwandlung von Testosteron in Östrogen während der Testosteronbehandlung bei XXY durch Aromatase-Blocker verhindern, damit verbleibende Spermienzellen nicht abgetötet werden. Aromatase-Blocker sind in den USA als off-use-label-Medikamente zugelassen.

4. Gendosierungseffekt:

Je mehr überzählige X/Y-Chromosomen, desto wahrscheinlicher Veränderungen im Gehirn.

Host C. et al, The role of hypogonadism in Klinefelter Syndrome, Asian J Androl. Mar-Apr 2014; 16(2): 185–191. (Volltext online)

wird z.B. bei Host et al (2014) als wahrscheinlicher angenommen als die Testosteronthese. Dafür spricht auch, dass Männer mit XYY noch häufiger autistische Merkmale haben als XXY-Männer.

Übersicht

clinicalupdate2013
Übersicht über Begleiterscheinungen von XXY aus GROTH ET AL (2013), Übersetzung von User „Zorg“

Mehr zu Chromosomenabweichungen wurde hier sehr ausführlich zusammengefasst: http://www.leona-ev.de/zk/module-Pages-display-pageid-46.html

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