Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über 47,XXY und Klinefelter-Syndrom (2015)

Vor kurzem ist ein neuer wissenschaftlicher Artikel aus Dänemark erschienen, und zwar von Skakkebaek et al. (2015). Er trägt den Titel

Neuropsychology and socioeconomic aspects of Klinefelter syndrome: new developments

Die Absicht der Autoren war, vom Hörensagen und kleinen Studien wegzugehen und stattdessen die neuesten Artikel mit groß angelegten Studien zusammenzufassen. Daher gibt es kaum Erwähnungen von Genderidentität, Reizfilterschwäche und anderen Themen, zu denen es bisher kaum Studien gibt. Die Autoren sind Teil einer großen Klinik mit mehr als 300 Betroffenen und haben im Laufe der vergangenen Jahre beträchtliches klinisches Wissen angesammelt. Entsprechend konnten sie große klinische Studien mit Klinefelter-Betroffenen durchführen.

Zusammenfassung

Blau markiert eigene Anmerkungen

Verbaler Ausdruck, Verhalten und psychische Begleitdiagnosen

Die Mehrheit der XXY-Menschen hat Defizite bei den verbalen Fähigkeiten, entsprechend sind die IQ-Werte auch leicht unterdurchschnittlich. Am häufigsten sind eine verzögerte Sprachentwicklung im Kindesalter, generelle Lernbehinderungen beim Lesen und Buchstabieren, flüssigem Sprechen, bei Satzbau, Wortfindung, Verständnis und Entschlüsselung mündlicher Informationen sowie eine verzögerte Verarbeitung des Gesagten. Ebenso sind die Exekutivfunktionen betroffen (Aufmerksamkeit, Pläne machen, Anpassungsfähigkeit der Impulskontrolle (response inhibition flexibility).

Im Gegensatz dazu gibt es keine Beeinträchtigung im räumlichen und visuellen Sehen sowie des Leistungs-IQ (performance IQ). Studien des amerikanischen Kinderpsychiaters Jay Giedd zeigen sogar, dass das visuelle und räumliche Denken der XXY eine Stärke ist. Viele XXY haben außerdem ein gutes Bildergedächtnis.

XXY-Menschen weisen ein charakteristisches Persönlichkeitsprofil auf, das aus höherer emotionaler Instabilität (Neurotizismus) und geringerer Extrovertiertheit, Offenheit gegenüber Erfahrungen und Pflichtbewusstsein besteht. Einzelbeobachtungen von XXY-Menschen bestätigen das – Ängstlichkeit, erhöhe emotionale Erregbarkeit, emotionale Schwierigkeiten, Schüchternheit, ruhiges, passives, verschlossenes Verhalten und Schwierigkeiten im Umgang mit Veränderungen treten gehäuft auf.

Bei XXY werden generell gehäuft Depressionen diagnostiziert ( 70 % bei XXY vs. 35 % bei der Normalbevölkerung), Autismus (11-27 % vs. 2-3 % bei Buben und Männern) sowie ADHS (63 % vs. 5 %), ebenso Angsterkrankungen und Schizophrenie. XXY leiden häufiger unter psychischem Stress und höherer emotionaler Instabilität, was zu Depressionen und Angsterkrankungen beiträgt.

Unterschiede in den Gehirnregionen

  • Das Gesamtgehirnvolumen sowie die der grauen und weißen Materie sind deutlich kleiner.
  • Ebenfalls kleiner sind die des Schläfenlappens, Hippocampus und der Amygdala.
  • Außer einer Studie zeigen alle keine Korrelation zwischen Gehirnvolumen und kognitiver Leistung. Bedeutender scheinen daher kleinräumigere Gehirnunterschiede.
  • XXY-Menschen zeigen eine verringerte Aktivität in den Gehirnregionen, die mit der Verarbeitung von Gesichtsausdruck (untere Schläfenregionen) und des limbischen Systems (Amygdala, Insula) zusammenhängen.

Inwiefern die Herkunft des X-Chromosoms von Mutter oder Vater, die Inaktivierung des zweiten X-Chromosoms und die CAG-Repeat-Länge des Androgen-Rezeptors eine Rolle spielen, ist noch ungeklärt.

Bildung, Lebensstandard, Sterblichkeit und Kriminalität

Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass Verhaltensauffälligkeiten, Lernbehinderungen, niedrige Bildungsabschlüsse und Kriminalität vorhanden sind. Ebenso führen viele aber auch ein normales Leben und der Einfluss der Klinefelter-Syndroms verringert sich mit fortschreitendem Alter. Das soziale Umfeld und frühzeitiges Eingreifen sind sehr wichtig. In Ländern und Regionen mit wenig erfahrenen Spezialisten ist der therapeutische Nutzen möglicherweise weniger zufriedenstellend, und im zunehmenden Alter können sich depressive Verstimmungen und Ängste eher verschlimmern.

XXY-Menschen sind deutlich seltener in einer Beziehung, gehen später in eine solche und werden seltener und später Vater. Immerhin 25 % der in Dänemark registrierten XXY-Männer sind Vater geworden, vermutlich großteils aufgrund von Spendersamen.

Niedrige Bildungsabschlüsse führen zu geringerem Einkommen während der gesamten Lebenszeit, viele scheiden vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus (43,5 versus 60,3 Jahre). Die Sterblichkeit ist fast doppelt so hoch, wenngleich teilweise durch Zusammenleben mit dem Partner und Bildungsabschluss beeinflusst (ohne diese weniger auffällig). Die Kriminalität war generell unauffälliger, wenn man den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund berücksichtigt hat.

Nur 25 % der XXY werden diagnostiziert, die Mehrheit erst im Erwachsenenalter.

Daraus resultieren zahlreiche Probleme:

1. Alle derzeitigen XXY-Studien unterliegen möglicherweise einem Selektionsdruck und das derzeitige Wissen umfasst nicht die nichtdiagnostizierten Fälle.

2. 90 % der XXY bleiben bis zum 15. Lebensalter unentdeckt; damit wird ein wichtiges Fenster verpasst, wo man Symptome korrigieren oder abschwächen kann.

3. Das derzeitige Diagnoseverfahren sollte geändert werden, und ein neues eingeführt werden, z.B. XXY durch den Guthrie-Test bei Neugeborenen zu diagnostizieren.

Eine frühzeitige Diagnose kann dazu beitragen, die kognitiven Funktionen, Lernen, verbale Fähigkeiten und Verhalten zu verbessern, vorausgesetzt, die frühzeitige Testosteronergänzungstherapie ist effizient und neuropsychologische Intervention vor der Pubertät effektiv.

Ebenso kann die körperliche Gesundheit verbessert werden, da eine erhöhte Gefahr für Typ-2-Diabetes, metabolisches Syndrom und Osteoporose bestehen.

Schlussfolgerung:

Der neurokognitive Phänotyp des Klinefelter-Syndroms ist klar abnormal und die Notwendigkeit psychologischer und kognitiver Behandlung ist in vielen Fällen offensichtlich. Abnormal mag aus klinischer Sicht richtig sein, aus Sicht eines XXY würde ich trotz aller Probleme VERSCHIEDEN sagen.

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Weitere (eigene) Anmerkungen:

1. In der Genetik und Verhaltenswissenschaft konzentriert man sich normalerweise auf Defizitdenken bei genetischen Anomalien, dennoch wäre es für uns Betroffene hilfreich, wenn man auch Stärken und positive Eigenschaften hervorheben würde.

2. Die große Mehrheit dieser Studien verwendet den Begriff „Männer oder Buben mit Klinefelter-Syndrom“, womit stets eine Minderheit an XXY-Menschen vernachlässigt wird, die sich nicht als Männer identifiziert. Entweder weil sie intersexuell geboren wurden, oder als Transgender, die als Heranwachsender oder Erwachsener später als Frau durchgehen wollen. Andere identifizieren sich zwar als Mann, aber lehnen die Maskulinisierung durch die Testosterontherapie dennoch ab. Ein paar XXY haben außerdem das Androgen-Insensitivitäts-Syndrom (CAIS) und Testosterontherapie ist für sie keine geeignete Therapie. In der XXY-Community wird heftig darüber gestritten, ob ein frühzeitiges Eingreifen durch Testosterontherapie für alle XXY-Kinder einen Nutzen darstellt, da Transgender oder Personen, die nicht maskulinisiert werden wollen, mitunter nicht dafür geeignet sind oder stattdessen sogar eine Östrogentherapie benötigen. In diesen Fällen scheint der Begriff Klinefelter-Syndrom (der sich auf Hypogonadismus = Testosterondefizit bezieht) nicht angemessen.

Auf meine Nachfrage haben die Autoren geantwortet, dass sie bisher ein paar XXY-Menschen trafen, die schwul sind und sehr wenige als intersex und transgender identifizieren. Dennoch zeigt ihre Forschung keine Hinweise darauf, dass dies häufiger bei XXY als unter Männern allgemein vorkommt. In ihrer Klinik betreuen sie auch Transgender und CAIS-Menschen und sind daher im Umgang mit dieser Patientengruppe vertraut.

Sie raten zur Testosteronergänzung nicht als Allheilmittel, sondern zu einer maßgeschneiderten Therapie für den Einzelnen. Manche erhalten Spritzen, andere Gelanwendung auf die Haut. Sie raten außerdem jedem dazu, beide Formen zu benutzen, um zu entscheiden, was das beste für den einzelnen Patienten ist.

3. Die Reizfilterschwäche wird bisher nur stiefmütterlich in der Forschung behandelt. Es gibt darüber bisher nur eine Studie, die bestätigt, dass Reizfilterschwäche bei XXY gehäuft auftritt.

Van Rijn et al, Psychophysiological Markers of Vulnerability to Psychopathology in Men with an Extra X Chromosome (XXY), PLoS ONE, 6(5): 2011

Bei AXYS gibt es dazu einen Handout über sensory processing disorder sowie zahlreiche Berichte über motorische Schwierigkeiten, die ebenfalls bekräftigen, dass die Reizverarbeitung bei XXY anders funktioniert. Umfragen in der XXY-Community zeigen außerdem, dass sich die Reizsensitivität nicht nur auf Geräusche beschränkt, sondern alle Sinne umfasst, ebenso Sehen (Bewegungen), Geruch/Geschmack und Berührungen. Viele XXY sind außerdem emotional sehr sensibel bis hochsensibel („6. Sinn“).

Verbale Defizite, Sensibilität und Motorik („Sensomotorik“) zählen zu den wichtigsten Merkmale des autistischen Spektrums. Mitunter handelt es sich bei XXY um einen möglichen spezifischen Subtyp der breiten „Autismus-Landschaft“, der eher dem weiblichen Autismus ähnelt:

Furthermore, when analyzing results of the SRS, girls were found to have more difficulty with comprehending social cues, such as understanding the tones or facial expressions of others, understanding jokes or idioms and how to engage in a two-way conversation. Boys were found to have deficits in those domains as well as in the realm of repetitive and self-stimulatory behaviors, such as hand flapping, body rocking or scripted talk. (Quelle)