5. Kapitel: Hinter die Labels schauen.

Im zweiten Teil von „The autistic brain“ von Dr. Temple Grandin geht es um die diagnostischen Begrifflichkeiten und wie hilfreich diese im Alltag von Autisten sind.

Grandin beginnt mit dem Skikurs und wie schlecht sie Skifahren kann, man fand heraus, dass ihr Cerebellum 20 % kleiner als der Durchschnitt ist, was motorische Koordinationsschwierigkeiten erklärt. Sie könnte jetzt sagen, dass sie nicht Skifahren kann, weil sie autistisch ist, oder wegen ihrem kleineren Cerebellum.

Die Veränderung des Cerebellums beschreibt die biologische Ursache des Symptoms, das ist der Unterschied zwischen einer Diagnose und einer Ursache. Wie fragwürdig labels (Bezeichnungen) sind, sieht man anhand der im vorherigen Kapitel beschriebenen Über- und Unterreaktion auf die gleiche Erfahrung: Zu viel Information.

Von außen betrachtet kann Grandin nicht Skifahren, weil sie Autistin ist. Vom Inneren her ist es dagegen das Cerebellum. Das ist das Problem der Label-fixierten Denker.

Don’t worry about labels. Tell me what the problem is. Let’s talk about specific symptomes.

Ein Individuum ist gekennzeichnet durch Unterschiede im Gehirn, etwa durch Unterschiede im corpus callosum, im cerebellum, durch die Anzahl der de novo Genmutationen, durch die Position der Mutationen auf dem Chromosom: ein breites Kontinuum.

Im Jahr 2011 stellte ein Artikel fest, dass viele akzeptiert haben, dass bestimmte austische Eigenheiten wie soziale Probleme, beschränkte Interessen und Probleme mit der Kommunikation ein Kontinuum umfassen, das von der Allgemeinbevölkerung bis zu Autismus in der Extremform reicht. Man braucht keine Autismusdiagnose mehr, um sich auf dem Spektrum wiederzufinden.

Der Autismusfragebogen, von Simon Baron-Cohen erfunden, besteht aus 50 Aussagen, die bei Kontrollpersonen eine durchschnittliche Punktzahl 16 von 50 ergaben, 80 % derer mit Autismusdiagnose oder verwandter Störung hatten über 32 Punkte. Aber wo liegt der Schwellenwert für Autismus? Das interessiert Label-fixierte Denker.

Label-thinking – sich an Bezeichnungen festklammern

Label-thinking kann zur eingeschränkten Denkart führen, ich kann das und das nicht tun, weil ich autistisch bin, es kann aber auch dazu führen, dass man durch die Diagnose beruhigt ist, aber sich fragt, wie Außenstehende darüber denken. Schätzungsweise die Hälfte der Mitarbeiter in technischen Firmen im Silicon Valley würden als autistisch diagnostiziert werden, was sie tunlichst vermeiden. Eine Generation davor hätten sie als schlicht als begabt gegolten, jetzt, wo es eine Diagnose gibt, versuchen sie Ghettoisierung zu vermeiden.

Label-thinking beeinflusst die Behandlung: Ein autistisches Kind mit Magendarmproblemen wird nicht behandelt, weil es heißt „Oh, Autismus, das ist das Problem!“ Dabei bedeutet das nicht, dass die Probleme nicht behandelt werden können.

Es beeinflusst auch die Forschung: Die Forscher beklagen sich oft darüber, dass die Größe der Fehlerbalken bei autistischen Daten doppelt so groß sind wie bei Kontrollpersonen. Was darauf hindeutet, dass in einem Sample große Abweichungen gibt, die in Subgruppen kategorisiert werden müssten.

Es wird behauptet, dass manche Lösungen für sensorische Überreizungen bei Autisten nicht funktionieren, dabei sah Temple Grandin selbst, dass es funktionierte, etwa gefärbte Sonnengläser. Allerdings funktioniert dieser Trick im Schnitt nur bei 3-4 von 20 Autisten, da Individuen im unterschiedlichen Ausmaß an Reizfilterschwäche leiden.

Die Schlussfolgerung der Forscher: Die Hilfsmittel funktionieren nur bei 15-20 % der Autisten, d.h. aber, es hilft durchaus, wenn auch nur einer Subgruppe.

Sie möchte Labels aber auch nicht verteufeln, sie sind wichtig für die Diagnose, Behandlung und um schlicht nicht ignoriert zu werden. Vorteile entstehen im medizinischen Bereich, in der Erziehung, Versicherungsbeiträge und bei sozialen Programmen. Zudem macht es für Forscher durchaus sein, autistische Personen mit Kontrollpersonen zu vergleichen, allerdings nicht immer, denn: Autismus ist keine „one-size-fits-all„-Diagnose. Erst der Mangel an Genauigkeit der Diagnose definiert das Spektrum.

Problematik der neuen DSM-V-Kriterien für Autismus

Im DSM-IV ging man von einem Triadmodell aus:

  1. Defizite in der sozialen Interaktion
  2. Defizite in der sozialen Kommunikation
  3. Beschränkte, wiederholende Verhaltensmuster und Interessen

Der DSM-V wirft 1. und 2. in einen Topf der Kommunikationsdefizite, das Dyadmodell:

  1. Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion
  2. Beschränkte, wiederholende Verhaltensmuster und Interessen

Dass soziale Kommunikation und Verhaltensmuster getrennt werden müssen, ist wissenschaftlich nachvollziehbar, da unterschiedliche Teile des Gehirns betroffen sind. Die Vereinigung von sozialer Interaktion und Kommunikation jedoch nicht.

Soziale Interaktion umfasst nonverbales Verhalten wie z.B. Augenkontakt oder Lächeln.

Soziale Kommunikation umfasst die verbale und nonverbale Fähigkeit, sich mit jemandem zu unterhalten, gleiche Ideen und Interessen zu teilen.

In einer Studie von 2011 fand man in 200 fMRI und DTI-Studien heraus, dass im bildgebenden Verfahren keine Grundlage für diese Einteilung gibt. Die Autoren schlugen sogar zwei weitere Kategorien entsprechend dem DSM-IV vor.

Im DSM-IV gab es die folgenden 3 Kategorien:

  • Autistische Störung (klassischer Autismus)
  • Asperger-Autismus
  • Nicht näher spezifierte tiefgreifende Entwicklungsstörung (atypischer Autismus, PDD-NOS)

Im DSM-V gibt es nur noch eine Kategorie:

  • Autismus-Spektrum-Störung

Was ist mit PDD-NOS und Asperger passiert?

Vorher war es so: Der große Unterschied zwischen Asperger und klassischer Autismus ist Sprachverzögerung. Wenn man vorher eine Sprachverzögerung als Kind aufwies, fiel man in die Autismus-Kategorie. Falls nicht, unter Asperger. Jetzt fallen auch Aspies in die Autismuskategorie, die keine Sprachverzögerung aufweisen.

Was ist mit vorher nichtdiagnostizierten Autisten, die nur die eine Hälfte der Dyade erfüllen: Defizite sozialer Kommunikation und Interaktion, aber nicht beschränkte Verhaltensmuster und Interessen? Das zählt künftig zur Kommunikationsstörung, genauer gesagt Soziale Kommunikationsstörung, worum es sich grundsätzlich um Autismus ohne wiederholende Verhaltensmuster und beschränkte Interessen handelt. Was grundsätzlich Quatsch ist! Die sozialen Beeinträchtigungen sind nach Grandin der Kern von Autismus, weniger wiederholende Verhaltensmuster.

„So having a diagnosis of social impairment that’s distinct from the diagnosis of autism is the same like having a diagnosis of autism that is distinct from the diagnosis of autism“

Eine Diagnose „soziale Beeinträchtigungen“ zu erhalten, die von Autismus unterschieden wird, ist das gleiche wie eine Autismus-Diagnose zu erhalten, die sich von der Autismus-Diagnose unterscheidet.

Jene, die vorher als Aspies diagnostiziert worden wären, müssten lernen, dass sie offiziell nicht mehr zu den neurologischen Entwicklungsstörungen gehören, sondern zu einer anderen Diagnosekategorie zusammen mit Unruhe stiftend, Impulskontrolle und Verhaltensstörungen. Die Entscheidung dafür wird letzendlich von der Einzelmeinung eines Arztes getroffen – was unwissenschaftlich erscheint.

Aus biologischer Sicht: Die neue Diagnosekategorie umfasst 6 Diagnosen, wovon nur eine eine wissenschaftliche Grundlage aufweist: Störung der Impulskontrolle (Jähzornigkeit). Neuroimaging zeigt, dass in diesem Fall die  Kontrolle vom Frontal Cortex Richtung Amygdala nicht funktioniert. Bei den anderen Diagnosen riecht es nach Temple Grandin sehr nach „wenn wir das so benennen, müssen wir ihnen keine Autismus-Unterstützung geben und können die Polizei die Angelegenheit erledigen lassen.“ Der DSM könne diese Kategorie genauso „Werft sie ins Gefängnis“ nennen.

Zweitens übersehen diese Diagnosen den begabten, aber oft frustrierten typischen Aspie, der in einer wenig verständnisvollen Umgebung arbeitet.

PDD-NOS umfasste laut DSM-IV jene Entwicklungsstörungen, die die Autismuskriterien nicht erfüllen, weil sie zu spät einsetzten, atypische und/oder unterschwellige Symptome aufweisen. Im DSM-V kommen sie hingegen in eine weitere Kategorie neurologischer Entwicklungsstörungen: intellektuelle Entwicklungsstörungen – spezifische, intellektuelle oder allumfassende Entwicklungsverzögerung, die nicht näher klassifiziert werden.

Eine Studie aus dem Jahr 2012 ergab, dass von 657 nach dem DSM-IV diagnostizierten Autisten nur 60 % gemäß DSM-V die Diagnose Autismus behalten würden. Auswirkungen hätte dies vor allem auf die staatlich [in den USA] garantierten Ansprüche auf Unterstützung bzw. Hilfeleistungen. Auch auf die Forschung hätte dies Einfluss: Jetzt würden sprachverzögerte und nicht sprachverzögerte Autisten in einen Topf geworfen. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass sprachverzögerte Autisten wesentlich stärker mit Reizproblemen zu kämpfen haben. Die Vergleichbarkeit in der Forschung wäre nicht mehr gegeben.

Der DSM-V besteht dank label-fixiertem Denken aus einer Fülle von Diagnosen, für die es gar nicht genügend Gehirnsysteme gibt.

Statt über die Benennung einer Zusammenstellung von Symptomen nachzudenken, könnten wir den einzelnen Symptomen nun bestimmte Ursachen zuordnen. Die Forschung wäre nun so weit, dass wir Symptome und Biologie verbinden können (*).

Das Kapitel beschließt mit einem Rückblick auf die Geschichte der Autismus-Diagnosen:

Phase I umfasst die Zeit von 1943 bis 1980, von der Entdeckung des Autismus durch Kanner bis zum DSM-III. In dieser Zeit suchte man die Ursache von Autismus, wegen der damalig populären Psychoanalyse mehr im Verhalten durch Erziehung („Kühlschrankmutter“).

Phase II reicht von 1980 bis 2013, bis zum DSM-IV, als man spezifische Symptome suchte, um Geisteskrankheiten zu behandeln.

Phase III startet nun ab 2014 mit den großen Fortschritten in den Neurowissenschaften und in der Genetik. Wie Phase I geht es um Ursachenforschung, aber mit 3 großen Unterschieden:

  1. Es geht weniger um Denken als um das Gehirn. Neurowissenschaften und Genetik erlauben einen tieferen Einblick.
  2. Es handelt sich um eine Suche nach Ursachen (Mehrzahl!), die der Komplexität des Gehirns geschuldet sind.
  3. Wir sollten nicht nach einer oder mehrerer Ursachen für Autismus suchen, sondern für das jeweilige Symptom im gesamten Spektrum.

Die Zukunft besteht nach Temple Grandin im Fokus auf Symptome statt auf Diagnosen („labels“), und Forscher sollten nicht auf Selbstbeobachtungen scheißen.

Statt alle Autisten müsste man kleine Subgruppen mit sehr spezifischen Eigenheiten betrachten, auf Symptom-neben-Symptom-Basis, mit spezifischen Änderungen im Gehirn.

Die Behandlung könnte vielmehr in gemeinsamen Mechanismen statt auf psychiatrische Diagnosekategorien wurzeln.

(*) Ergänzung:

Dieser Meinung ist auch einer der führenden Autismusforscher, Jaak Panksepp:

[…] psychology needs to become biologically-oriented. We have this wonderful discipline, but one where people seem to be doing the same thing over and over again, especially with the many verbal and pencil and paper approaches. Psychology departments have very few people that really understand the way the brain operates, and that is a great shortcoming of the area. If we all knew much more about the brain, we would be able to help kids with problems, as well as adults with problems, much better. We could finally become a solid science.

Quelle: http://www.autism-help.org/points-brain-chemistry-autism.htm

Bisher zusammengefasste Kapitel:

1. Geschichte der Autismus-Diagnosen

2. Gehirnforschung

3. Sequenzierung des Gehirns

4. Verstecken und Suchen