Kinder und Tiere

Muss ein bisschen weiter ausholen…

Wenn Kinder klein sind, nehmen sie alle Reize ungefiltert wahr, so wie Tiere es ihr Leben lang tun, und Autisten. Kinder, Tiere und (manche) Autisten erschrecken leicht bei unerwarteten Geräuschen. Vorhin in einem (eigentlich) Lieblingslokal fiel hinter einem Baby plötzlich die Tür hart ins Schloss. Das Baby fiel an zu Weinen, was in Schreien überging, und es beruhigte sich auch nicht mehr. Der zitternde Chihuahua tänzelte unter nervöser, höchster Anspannung im Lokal hin und her, kläffte ängstlich Neuankömmlinge an und zuckte bei jeder größeren Gestik und Geschirrklappern in der Küche zusammen.

Wenn ich im Lokal sitze, bin ich auch nervlich oft angespannt. Besonders, wenn die KellnerInnen sich alle Mühe geben, geflissentlich an mir vorbeizuschauen, ich zum zehnten Mal die Karte in die Hand nehme, um anzudeuten, dass ich etwas bestellen möchte, aber nicht aktiv auf mich aufmerksam mache. Bestellen ja, nein, bezahlen auch irgendwann. KellnerInnen kommen anfangs häufiger, später seltener am Gast vorbei. Gute KellnerInnen schauen sich um, wenn sie zum Tresen zurückgehen, statt Scheuklappen zu benutzen.

Jedenfalls nehme ich immer etwas zum Lesen mit, wenn ich alleine in ein Lokal gehe. Gegenwärtig habe ich zwei Lieblingslokale, eines mit Rundumverglasung, wo ich rasch sehe, wo etwas frei ist, und eines, wo ich den Besitzer persönlich kenne, und gegenfalls reservieren kann. Bis ich so weit war, selbständig in ein Lokal zu gehen, hat es lange gedauert, bis zu meinem 29. Lebensjahr. Und eben auch mit Einschränkungen der freien Einsicht und nicht zu viele Menschen. Und da kommt mein Problem: Kinder.

Wenn man sich (in social media) über Kinder- und Kleinkindergeschrei erregt, folgen meist empörte Reaktionen von Eltern – man sei doch auch einmal klein gewesen, Kinder sind nun einmal Kinder und dürfen laut sein. Deswegen möchte ich auch klarstellen: Ich habe nichts gegen Kinder an sich, sondern ertrage nur das Wesen der Kinder nicht. Je nach Alter reden sie ununterbrochen, schreien plötzlich quer durch den Raum, jammern und quengeln, rennen durch den Raum, wuseln ständig um mich herum, können nicht stillsitzen, etc… Ich kann das alles nicht ausblenden. Die oft grellen Kinderstimmen schmerzen in meinen Ohren, ich bekomme Kopfweh. Ich nehme in meinem Blickfeld viel wahr, was andere nicht wahrnehmen, sehe jede hektische Bewegung. Kann mich nicht mehr aufs Lesen konzentrieren, kann es nicht mehr ausfiltern, was um mich herum geschieht. An sich mag ich Kinder, oft ist es rührend zu beobachten, wie Kleinkinder auf andere Kleinkinder reagieren, oder auch manche Aussagen über aktuelle Geschehnisse oder Situationskomik. Oft schon habe ich in der Straßenbahn Szenen beobachtet, wo ich mich wegschmeißen konnte vor Lachen. Ich bin also kein Kinderhasser, sondern leide unter meiner Reizfilterschwäche. Genauso können es Erwachsene sein, die sich laut unterhalten, oder ein nerviger Klingelton, oder jemand, der im Lokal oder in der Straßenbahn seine Signaltöne und Whatsapp-Benachrichtungstöne nicht abstellt. Es geht also um Geräusche und Bewegungen, manchmal auch um Enge, wenn mein „privat space“ überschritten wird.

Und da kommt der Hund ins Spiel. Oder Tiere allgemein. Wenn in einer unerträglich lauten Straßenbahn jemand mit einem Hund mitfährt, zieht es meine Aufmerksamkeit in Richtung Hund. Mein Puls geht spürbar nach unten, ich atme langsamer, fixiere den Hund, und in mein Gesicht zaubert sich ein Lächeln, jedenfalls fühlt es sich für mich so an. Ebenso in einem Lokal mit allerhand Geschrei um mich herum. Ein Hund beruhigt mich. Streicheln noch viel mehr. Plötzlich wird der Hintergrund weniger dominant, es zählt nur noch das Tier. Auch eine Katze übt auf mich diese beruhigende Wirkung aus. Streicheln ist immer das Optimum, doch alleine schon der Anblick genügt, um die Umgebungsreize abzudämpfen.

Ich finde, dass jeder, der mit einer Reizfilterschwäche zu kämpfen hat, der auf Licht, Geräusche, Menschen, Bewegungen, etc… übersensibel reagiert, rasch gereizt ist, und sich schnell aufregt (was in den meisten Fällen auf Unverständnis stößt „Du bist aber empfindlich!“, „Das sind eben Kinder!“, „Du warst auch mal so!“),das Recht auf einen Begleithund haben sollte, wenigstens aber ein Haustier, wo Hunde natürlich den Vorteil haben, dass sie weitgehend immer mit dabei sein können, und gerade bei den Umgebungsreizen den Fokus ablenken. Denn nach so einem unfreiwillig lauten Lokalbesuch einzukaufen, am Nachmittag, wenn sämtliche Eltern mit den Kindern einkaufen, potenziert die Reizsensibilität bloß noch – dann kommt Verkehrslärm hinzu, und die beginnende Hektik der Feierabendler. In dieser autistenfeindlichen Umgebung kann ein Hund als Ruhepol dienen, mithilfe dessen man sich ohne größere Overloads hindurch navigiert.

Es ist vorwiegend die Reizfilterschwäche. Diese ist neurologisch bedingt, bei Klinefelter/47,XXY durch die kleineren Stirnlappen, welche mehr Reize durchlassen als bei Menschen mit durchschnittlich großen Stirnlappen. Kinder haben auch kleinere Stirnlappen, die aber im Laufe des Lebens wachsen, weswegen Erwachsene Umgebungsreize besser ausblenden können („Cocktailparty-Effekt“ – sich im Stimmengewirr einer Party mit dem Gesprächspartner unterhalten können).
Deswegen mein Appell:

Wenn sich ein Mensch darüber beklagt, dass es so laut ist, egal ob Erwachsene oder Kinder die Verursacher des Lärms sind, geht nicht gleich davon aus, dass er oder sie ein „Kinderhasser“ ist. Ja, das kommt vor, und auch Schwerhörigkeit (wie bei älteren Menschen) verursacht eine ähnliche Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen. Ich leide auch darunter, weil ich weiß, dass es verpönt ist, sich darüber zu echauffieren, und weil ich weiß, dass Kinder dafür nichts können und ein Recht darauf haben, laut und bewegungsfreudig zu sein (und man froh darüber sein muss, wenn sie nicht stundenlang vorm Tablet oder Computer sitzen). Ich kann meine Reizfilterschwäche aber nicht verschwinden lassen, außer mich selbst verschwinden zu lassen, was auch weniger Lebensqualität bedeutet, denn ich gehe an sich gerne in bestimmte Lokale mit guter (nicht zu lauter) Musik, gutem Essen, Nichtraucherlokale, usw, und bin froh, wenn ich – zwar vergleichsweise selten – die Vorzüge einer Großstadt nutzen darf.

An die Fachärzte, und wen es auch immer betrifft, gerichtet, kann ich nur appellieren, dass nicht nur Menschen mit körperlicher Behinderung von einem Begleithund profitieren. Eine Reizfilterschwäche ist strenggenommen auch eine körperliche Behinderung, jedoch äußerlich nicht sichtbar. Und das macht es für viele Betroffene schwer, in ihrem Leidensdruck wahr- und ernstgenommen zu werden.