Autismus, Klinefelter, Kinderwunsch und Trauer

Auf der Suche nach deutschsprachigen Erwähnungen eines Zusammenhangs (bzw. eines Dementis) von Klinefelter-Syndrom und Autismus bin ich auf die öffentlich zugängliche Vereinszeitung des deutschen Vereins 47xxy-Info gestoßen.

Dort berichtet eine Frau von ihren Erfahrungen mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann, der mutmaßlich das Klinefelter-Syndrom hatte. Zuerst war ich positiv davon angetan, dass erstmalig auf einer deutschsprachigen Klinefelter-Vereinsseite der Begriff Autismus auftauchte. Dann las ich jedoch weiter.

Die Tendenz zu Depressionen, die wohl auch früher schon, aber sicher in den letzten anderthalb
Jahrzehnten stärker gegeben hat, wäre zu vermeiden gewesen. Mit einem muskulösen
Körper und mit einer besseren Stimmung hätte er die Ratschläge der Mediziner nach gesunder
Ernährung und ausreichender Bewegung leichter umsetzen können. Der Diabetes wäre in dem
Maße vermutlich gar nicht erst ausgebrochen, denn er tritt hauptsächlich durch den Hormonmangel
oder durch das überzählige, zweite X-Chromosom vermehrt auf (Prof. Zitzmann).

Hier werden schon einmal verschiedene Aussagen getroffen, die nach derzeitigem Stand so pauschal nicht haltbar sind.

1. Es ist richtig, dass sich die Stimmung bei vielen Menschen durch die Substitution verbessert hat, vor allem, weil es die Müdigkeit herabsetzt. Man fühlt sich mit Energie und Antrieb ausgestattet. Depressionen haben allerdings vielschichtige Ursachen. Hormonungleichgewicht ist nur eine davon.

2. Der muskulöse Körper entsteht nicht alleine durch das Testosteron! Menschen mit Klinefelter-Syndrom weisen generell einen veränderten Körperbau mit erhöhtem Körperfett und verringerter Muskelmasse auf. Dass sich die Muskelmasse verbessert, wurde bisher nur bei (älteren) 46,XY-Männern nachgewiesen und ist ja auch vom Bodybuilding bekannt. Männer mit normaler Chromosomenanzahl verarbeiten jedoch Testosteron ganz anders als 47,XXY-Männer. Wie sich die Testosterontherapie langfristig auf die Muskelkraft bei Klinefelter auswirkt, wurde noch nicht untersucht.

3. Wenn Diabetes durch das überzählige X-Chromosom auftritt, wäre er genetisch bedingt und ließe sich nicht korrigieren. Daher wäre diese Aussage ein Widerspruch. Derzeit gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, dass die Hormontherapie die Insulinresistenz verringert. Es kann höchstens einen indirekten, vorbeugenden Effekt geben, wenn die körperliche Fitness positiv beeinflusst wird. Das setzt aber auch voraus, dass man aktiv wird, seine Ernährung umstellt und Bewegung treibt. Zudem kann es auch vererbt worden sein.

Weiter im Text …

Was ist mit den Kindern, die schon im Kindergartenalter mit offenen Augen durch die
Welt gehen und sehen, wie viel herzlicher andere Väter mit ihren Kindern umgehen? Welcher
Verlust, welcher Mangel von Anfang an. Ich habe mit Bewunderung den einen oder
anderen Bericht von Asperger-Autisten gelesen, und da denke ich, dass es heute sicher auch
viele gibt, die sich anders entwickeln, als es bei meinem Mann der Fall war, die ihr Verhalten reflektieren,
die dazulernen. Ich möchte trotzdem jeder jungen Frau, die plant, mit einem Mann
mit Klinefelter-Syndrom Kinder zu bekommen, raten, einige Lebensberichte oder Erzählungen
über Asperger zu lesen. Und wenn sie das Gefühl hat, dass ihr das bekannt vorkommt, dann gut zu
überlegen, was sie tut.

[…]

Für viele Asperger-Autisten ist ein Angehöriger, der stirbt, einfach weg (z. B. in Buntschatten
und Fledermäuse: Mein Leben in einer anderen Welt von Axel Brauns). Stellen Sie sich vor, ihr
gemeinsames Kind stirbt. Und für ihren Partner ist das Kind einfach weg. Wie wollen Sie an der
Seite von so jemandem trauern? Sie werden das kaum aushalten!

Ist es wirklich erstrebenswert, einen Kinderwunsch nur deswegen nicht in Betracht zu ziehen, weil im Falle eines vorzeitigen Todes des gemeinsamen Kindes die individuelle Trauer anders ausfällt?

Unfruchtbare Männer leisten viel, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen

Weiters ist es so, dass über 90 % der Männer mit Klinefelter-Syndrom unfruchtbar sind, und wahrscheinlich nur ein Bruchteil sich gemeinsame Kinder vorstellen kann, die entweder aus künstlicher Befruchtung, anderen Techniken oder Adoption kommen. Und die, wenn sie Kinder wollen, dafür wahrscheinlich ein hohes finanzielles Risiko eingehen müssen. Ich möchte damit sagen, dass der Kinderwunsch dann auch seine Berechtigung hat.

Stiefkind-Syndrom statt Autismus?

Die Frau berichtet, dass alle drei Kinder aus heterologer Insemination entstanden ist, d.h. durch die Samenspende eines Dritten. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese Art der Erfüllung eines Kinderwunsches auch seelisch problematisch ist. Heutige Techniken versuchen bei Klinefelter-Männern, noch lebensfähige Spermien aus dem eigenen Hoden zu extrahieren, ggf. einzufrieren, um später eigene Kinder zu bekommen.

Ich glaube, es ist kein Geheimnis auf dieser Welt, dass Stiefväter seltener eine gute zwischenmenschliche Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Das kann also durchaus eine Rolle gespielt haben, dass sich der Vater hier nicht als Vater gefühlt hat, wenn zudem die durch einen Dritten gezeugten Kinder vom Charakter her anders sind als der leibliche Vater, oder sich auch die Kinder dem Vater gegenüber nicht so verhalten haben wie dem leiblichen Vater gegenüber, auch abhängig davon, wann sie über die Samenspende aufgeklärt wurden. Leider kenne ich keine Studie darüber, inwiefern sich in der Vaterrolle bei Inseminationsfamilien Identifikationsprobleme mit den eigenen Kindern ergeben, aber ich möchte nicht ausschließen, dass das hier eine Rolle gespielt hat.

Es muss hier also nicht Autismus vorgelegen haben, zumal das einzige geschilderte Symptom für Autismus im ganzen Text die Probleme beim Kontakte knüpfen sind. Alleine aus dem Umstand eines Rabenvaters auf das Asperger-Syndrom zu schließen, entbehrt jeder seriösen Grundlage.

Autismus bedeutet nicht Mangel an Empathie

Davon abgesehen weiß ich von Asperger-Vätern, dass sie sehr wohl Liebe für ihr Kind empfinden können, auch wenn sie es möglicherweise auf andere Art zeigen als neurotypische Väter. Sie ist nach außen möglicherweise nicht sofort sichtbar, aber sie ist da. Autisten haben generell Schwierigkeiten damit, Emotionen richtig auszudrücken, aber das heißt nicht, dass sie keine Emotionen haben! Keine Frau kann bei einem neurotypischen Vater ausschließen, dass sich dieser dem Kind gegenüber schlecht verhält! Autismus potenziert dieses Risiko nicht!

Ebenso wenig trifft es zu, dass für „viele“ Asperger-Autisten ein Angehöriger einfach weg ist. Ich bin selbst Asperger-Autist und leide sehr unter dem Tod nahestehender Menschen. Ich kann es vielleicht nicht direkt ausdrücken, wirke äußerlich gefasst oder gar teilnahmslos, aber das ist eben nur die Außensicht! Die Mehrheit der Autisten hat ein starkes Gefühlsleben, schottet sich aber entweder nach außen ab, oder zeigt es überdeutlich. Es ist aber nicht so, dass sie keine Trauer empfinden können! Davon abgesehen hat auch jeder neurotypische Mensch eine andere Art zu trauern. Manche verdrängen und wollen sofort wieder arbeiten, andere werden depressiv und abhängig von ihren Mitmenschen. Und andere verarbeiten den Tod durch Schreiben oder andere Aktivitäten. Nur, weil Trauer äußerlich nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie auch innerlich nicht vorhanden ist!

Ist der XXY-Autismus anders?

Schließlich kann man den durch extra X-Chromosome bedingten Autismus nicht zwangsläufig als identisch mit Autismus betrachten, dessen Ursache unbekannt ist (idiopathischer Autismus, siehe Beitrag davor), d.h., Autisten mit zusätzlichem X-Chromosom zeigen deutlich seltener starke autistische Symptome (seit der Kindheit) und werden eventuell daher auch seltener diagnostiziert. Das Risiko, dass es sich bei einem Klinefelter-Autisten (zweifache Diagnose derzeitig nur bei 10-30 % aller diagnostizierten Klinefelter) um verschlossenen Menschen handelt, der schwerwiegende Probleme hat, seine Gefühle der Umwelt mitzuteilen, ist also geringer – jedenfalls nach den bisher vorliegenden Studien, die Klinefelter mit diagnostiziertem Autismus auf den Schweregrad der Symptome untersucht haben (bisher nur bei Kindern und Jugendlichen untersucht worden).

Zusammenfassung:

Einerseits ist bis heute nicht zweifelsfrei bewiesen, dass die Testosterontherapie bei allen Betroffenen Depressionen lindert, die Muskelkraft stärkt und Diabetes verhindert, andererseits kann man im vorliegenden Fall aufgrund der empfundenen Kälte gegenüber der Kinder nicht zwangsläufig von einer Autismus-Diagnose ausgehen. Die Methode, mithilfe einer Samenspende den Kinderwunsch zu erfüllen, kann eine (frustrierende) Rolle gespielt haben. Weiters sind laut Text weder die Klinefelter- noch die Autismus-Diagnose bestätigt, und es werden auch keine signifikanten Symptome aufgezählt, die Autismus wahrscheinlich machen.

Deswegen möchte ich nach der Lektüre dieses Erfahrungsberichts dringend davon abraten, diesen als allgemein gültig für alle XXY-Männer [mit Kinderwunsch], geschweige denn als typisch für Asperger-Autisten zu betrachten.

PS: Ich spreche der Frau nicht ab, dass sie negative Erfahrungen gemacht hat, ebenso schließe ich hier keine Diagnose aus, aber ich möchte dazu appellieren, keine vorschnelle Schlüsse aus einem Einzelbericht zu ziehen, und einen Kinderwunsch mit einem Klinefelter-Mann kategorisch auszuschließen, egal ob er Autist ist oder nicht.