Offener Brief an die deutschsprachigen Klinefelter-Vereine

Sehr geehrte Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung,

sehr geehrte Klinefelter-Syndrom-Gruppe Ost (Österreich),

sehr geehrter Verein Klinefelter-Syndrom Schweiz,

als Betroffener des Klinefelter-Syndroms (47,XXY) wende ich mich an Sie mit einem wichtigen Anliegen:

Der Zweck einer Selbsthilfegruppe bzw. eines Selbsthilfevereins besteht für mich darin, anderen Betroffenen und Angehörigen ein offenes Ohr zu geben und bei Bedarf Hilfe zu vermitteln oder selbst Hifestellungen zu geben. Es ist in unser aller Interesse, dass wir ständig aktuell bleiben und nach neuen Erkenntnissen über diese seltene genetische Chromosomenabweichung Ausschau halten.

Besonders im deutschsprachigen Raum kämpfen wir gleich mit mehreren Hürden:

  1. Sprachbarriere: Der Großteil der neuesten Forschungsergebnisse ist in englischer Sprache verfasst und vielen Betroffenen und Angehörigen ohne Englischkenntnisse nicht zugänglich.
  2. Mangel an Experten: Es gibt einen gravierenden Mangel an Fachwissen bei Allgemeinärzten, aber auch bei Spezialisten, was die hohe Dunkelziffer miterklärt, und die es uns schwer macht, geeignete Hilfestellungen zu finden.
  3. Unzureichende Aufklärung: Es besteht außerdem eine hohe Abtreibungsrate ( über 70 %), wenn ein überzähliges X-Chromosom bei einem Gentest vor der Geburt erkannt wird. GynäkologInnen scheinen diese hohe Abtreibungsraten durch die Schilderung vom schlimmsten Fall zu befördern.
  4. Kaum Medienpräsenz: Es gibt nahezu keine (ausgewogene) Berichterstattung zum Klinefelter-Syndrom, das fast ausschließlich in Zusammenhang mit unerfülltem Kinderwunsch und Testosteronmangel genannt wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir keinen prominenten Fürsprecher für das Klinefelter-Syndrom haben, und durch die vergleichsweise geringe Zahl registrierter Betroffener auch relativ wenige aussagekräftige Studien über die Wirksamkeit der Behandlung und möglicher, weitererer Probleme.

Es sollte im Interesse von uns allen sein, möglichst umfassend über das Klinefelter-Syndrom aufgeklärt zu werden, und dass diese Diagnose kein Todesurteil darstellt, selbst wenn Unfruchtbarkeit feststeht. Leider suggerieren nahezu alle Medienberichte über das Klinefelter-Syndrom, ebenso wie viele Texte auf Ihren Webseiten, dass außer einem Testosteronmangel keine weiteren Begleiterscheinungen vorlägen. Das mag vielleicht ein Trost für werdende Mutter sein und ein Anreiz, das Kind nicht abzutreiben, doch ist es für Betroffene selbst ernüchternd, wenn man kein Gehör findet. Ebenso wenig spiegelt es die Realität wieder, wenn behauptet oder suggeriert wird, eine Testosterontherapie könne alle auftretenden Beeinträchtigungen beseitigen. Testosteron ist kein Allheilmittel beim Klinefelter-Syndrom.

Zwei weitere Themen liegen mir am Herzen:

Buben und Männer mit 47,XXY-Chromosomensatz weisen eine erhöhte Neigung für ADHS und Autismus auf, siehe dazu Sophie van Rijn von der Universität Leiden sowie ein Artikel von Kate Yandell über die Auswirkung des zusätzlichen X-Chromosoms.

Informationen über Autismus bei 47,XXY außerhalb der deutschen Vereine:

In den Niederlanden wird gerade die psychische und soziale Komponente von 47,XXY viel ausführlicher beschrieben als im deutschsprachigen Raum, siehe z.B. hier oder auf der holländischen Klinefelter-Seite. Nach den Erfahrungen der Niederländer erhalten rund ein Drittel der Buben und Männer mit Klinefelter-Syndrom zusätzlich eine Diagnose aus dem Bereich des autistischen Spektrums.

Umfassende Informationen finden Sie auch bei der Amerikanischen Organisation für X- und Y-Chromosomenabweichungen, AXYS, sowie beim Britischen Klinefelter-Verein.  Von letzterem stammt auch ein ausführlicher Leitfaden für Eltern und Lehrer von Klinefelter-Buben, den ich ins Deutsche übersetzt habe. Viele Probleme und Anforderungen decken sich mit denen von autistischen Kindern.

Um es gleich klarzustellen: ADHS ist keine Erfindung der Pharmaindustrie und Autismus wird weder durch schlechte Erziehung, Impfschäden noch durch Pestizide oder ungesunde Ernährung verursacht!

Im deutschen Ärzteblatt von 2013 wurden die jüngsten Forschungsergebnisse zusammengefasst:

https://www.aerzteblatt.de/pdf/110/20/m347.pdf

Weiters wurde in den USA ein Selbsthilfebuch für Menschen mit 47,XXY, 47,XXX und 47,XYY geschrieben. Dort finden sich weit mehr Informationen als nur zum Testosteronmangel. Ich kenne Betroffene, die seit 30 Jahren Testosteronsubstitution erhalten, und deren autistische Verhaltensweisen dadurch nicht verschwunden sind. Zudem sind autistische 47,XXY-Kinder bereits dann auffällig, wenn noch gar kein Testosteronmangel vorliegt. Auch eine vermeintliche Schwerhörigkeit stellte sich bei mir als Reizfilterschwäche heraus. Ich kann Umgebungsreize generell nur schwer ausblenden. Dies deckt sich mit den Schilderungen zahlreicher, weiterer Betroffener über persönlichen Kontakt bzw. über amerikanische Facebookgruppe.

Schätzungen gehen außerdem davon aus, dass weit mehr als die Hälfte auch ADHS aufweist, und dabei vor allem den stillen Untertyp (ohne Hyperaktivität).

2. Liegt denn immer ein Testosteronmangel vor?

Ich habe bei Claus H. Gravholt von der Aarhus Universität in Dänemark nachgefragt, der bei einer großen Klinik mit über 300 Klinefelter-Patienten arbeitet. Er konnte mir berichten, dass Intersexualität und Transgender nicht häufiger als in der Allgemeinbevölkerung sind. Aber: Der Anteil liegt nicht bei Null Prozent!

Es kommt vor, dass sich nicht alle Betroffenen als Mann identifizieren und für sie eine Testosterontherapie nicht in Frage kommen.Manche lehnen eine Therapie generell ab bzw. identifizieren sich nicht als Mann und machen stattdessen eine Östrogentherapie. Für sie sind Aussagen wie „du bist ein normaler Mann wie Männer mit 46,XY auch. Die Testosterontherapie wird dazu beitragen, dass Du einen männlichen Körper entwickelst/beibehältst“ wenig hilfreich, sondern erzeugen im Gegenteil eher noch Schamgefühle. Betroffene, die sich nicht als Mann identifizieren, lehnen teilweise die Bezeichnung Klinefelter-Syndrom ab, weil für sie niedrige Testosteronwerte Teil ihrer Identität sind.

Das führt mich zu einer wichtigen Bitte:

Es reicht bei einer Diagnose Klinefelter-Syndrom NICHT aus, Betroffene und Angehörige nur zum Hormonspezialisten (bestenfalls ein Endokrinologe, da viele Urologen die notwendigen Kontrollen der Blutwerte, Prostata und Vitamin D nicht regelmäßig durchführen) zu schicken. Wir benötigen außerdem psychologische Unterstützung, ggf. auch zusätzliche Diagnosen, um die psychischen bzw. sozialen Auswirkungen des zusätzlichen X-Chromosoms abzudecken. Eine zusätzliche Diagnose ist keine Bürde, sondern sorgt im Gegenteil für eine individuell zugeschnittene Therapie und den Bedürfnissen des Kindes (und Erwachsenen) angepassten Unterstützungsbedarf.

Wie so ein interdisziplinärer Behandlungsansatz aussehen könnte, zeigte eine Kinderklinik in den USA (freier Artikel). Sie beschäftigt unter anderem Kinderärzte für Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen, Endokrinologen, genetische Berater, Kinderpsychologen, kinderärztliche Neuropsychologie, Sprachtherapeuten, Ergotherapeuten, Krankenpfleger und Sozialarbeiter. 85 % der befragten Patienten waren mit der Betreuung „sehr zufrieden“ und 10 % „zufrieden“.

Nicht zuletzt dürfen wir auch nicht aus den Augen verlieren, dass die Mehrheit aller Betroffenen erst im mittleren Lebensalter (35-50) diagnostiziert wird. Für Menschen wie mich nützen Angebote für Kinder und Jugendliche nichts mehr, aber wir wachsen weder aus ADHS, Autismus noch aus dem Klinefelter-Syndrom heraus. Der Chromosomensatz bleibt bis ans Lebensende 47,XXY. Und gerade Spätdiagnostizierte stellen sich mitunter seit Jahrzehnten die Frage, warum sie anders sind als die anderen und oft auf Hürden im Alltag stießen, und haben entsprechenden Rede- und Austauschbedarf.

Bitte nehmt uns ernst. Redet das Klinefelter-Syndrom nicht schön. Es ist kein Weltuntergang, aber auch kein Schönwettersyndrom, das man verharmlost und auf den Testosteronmangel reduziert, um Angehörige und Schwangere nicht zu beunruhigen. Unsere Lebensqualität würde sich bedeutend erhöhen, wenn wir uns bei den Selbsthilfe- (!) Gruppen verstanden fühlen und über alles reden können, selbst über Tabuthemen oder unangenehme Wahrheiten, die nicht jedem gefallen.

gezeichnet,

ein Mensch mit 47,XXY und Asperger-Syndrom

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Über eine Verbreitung des Briefs und Unterstützung in Form von Kommentaren freue ich mich sehr.