Interview mit einem (intersexuellen) Klinefelter in der SHZ

Um diesen Artikel lesen zu können, musste ich mich extra registrieren. Leider hat der Autor keine Kontaktadresse, sonst hätte ich ihn gefragt, ob ich den Artikel ausnahmsweise vollständig auf meinem Selbsthilfeblog veröffentlichen darf. Ich möchte ihn aber trotzdem hier zugänglich machen, werde mich dabei aber auf ein paar Zitate beschränken. Der Name des Betroffenen wurde von der Redaktion geändert.
Ein Betroffener des Klinefelter-Syndroms erzählt, wie es ist, sich weder als Mann noch als Frau zu fühlen. – Quelle: https://www.shz.de/22791627 ©2019

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Entdeckt wurde das Klinefelter-Syndrom bei diesem Betroffenen klassisch durch die Musterung und der Frage der Ärztin, ob ihm seine kleinen Hoden schon einmal aufgefallen seien. Theoretisch könne man es auch schon früher bemerken, durch Fruchtwasseruntersuchung oder verzögerte Pubertät. Der Betroffene moniert, dass behandelnde Ärzte oft Wissensdefizite haben, selbst Urologen hätten es nicht bemerkt.

Der interessanteste Abschnitt des Zeitungsberichts ist dieser:

„Ich bin weder männlich noch weiblich“

Aber was ist das Klinefelter-Syndrom überhaupt und was sind die Symptome? In einfachen Worten: Eine bestimmte Chromosomen-Konstellation, die nur bei Männern vorkommt – Betroffene haben ein weibliches X-Chromosom mehr. Somit wird das Klinefelter-Syndrom von Betroffenen oft als eine Art von Intersexualität bezeichnet. Denn nicht alle betroffenen Menschen sehen sich selbst als Mann, ein Teil sieht sich selbst als Frau.

Alex sagt über sich selbst: „Ich bin weder männlich noch weiblich, sondern intersexuell.“ Hempel widerspricht und sagt, dass er rein medizinisch betrachtet allein schon durch das Y-Chromosom als Mann gelte.

Alex findet das anmaßend: „Das hängt vom persönlichen Empfinden der Betroffenen ab. Manche fühlen sich als Mann, manche eher als Frau – bedingt durch den niedrigen Testosteronspiegel, verstärkte Brustentwicklung, allgemein femininer Körperbau oder rein emotional. Ich sehe mich auch eher als Mann, aber wenn ich meine Hormonschübe habe, kommt eher das Weibliche zum Vorschein. Ich habe irgendwie beides in mir.“

Für die Berichterstattung in den letzten Jahren, seit ich selbst darauf aufmerksam wurde und mich näher damit beschäftigt habe, sind diese Zeilen sehr fortschrittlich, es ist erleichternd, so etwas zu lesen. Für die Erweiterung des XXY-Spektrums habe ich selbst auf meinem Blog gekämpft, gegen rein medizinische Sichtweisen.

Der im verlinkten PDF geschriebene Absatz über Autismus ist leider immer noch ziemlich unausgegorenes Geschwurbel:

Es wird zunehmend deutlich, dass viele Autisten nicht nur die von ihnen bekannten Wahrnehmungs- und Kommunikationsveränderungen haben, sondern gleichzeitig von meist multiplen somatischen Veränderungen betroffen sind. Für einige dieser sogenannten Autismus-Syndrome sind die Zusammenhänge (zum Teil auch die genetischen Veränderungen) verantwortlich. Sie können im direkten Zusammenhang mit dem Klinefelter- oder anderen Syndromen stehen. Die meisten der erwachsenen Autisten sind allerdings bisher keinem dieser erforschten Syndrome zuzuordnen, wenngleich bei ihnen eine Häufung somatischer Begleiterkrankungen zu bestehen scheint. (S.44)

Das ist kein schönes Deutsch. Im Jahr 2019 zählt zu den Fakten, dass Autismus überwiegend genetisch bedingt ist. Es gibt keine Autismus-Syndrome, sondern nur explizit das Asperger-Syndrom, das seit 2017 im DSM-V bzw. ICD-11 in der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung aufgegangen ist. In der neuesten S3-Leitlinie zur psychiatrischen Diagnostik wurde das Klinefelter-Syndrom als mögliche genetische Ursache und Hinweis auf Autismus aufgenommen. Es ist völlig irrelevant, ob hier jugendliche oder erwachsene Autisten betrachtet werden. Da Autismus genetisch bedingt ist, liegt er seit Geburt vor. Höchstens die Symptome machen sich nicht immer, wie auch hier im vorliegenden Fall beim Klinefelter-Syndrom, von Beginn an deutlich bemerkbar oder sind so unspezifisch oder widersprüchlich, dass sie nicht zugeordnet werden können. Rund 25% der Autismus-Diagnosen können aber eindeutigen chromosomalen oder genetischen Veränderungen zugeordnet werden. Worin man sich in der Selbsthilfebroschüre des Deutschen Klinefeltervereins windet zuzugeben, ist, dass Autismus eine durchaus plausible Begleitdiagnose des Klinefelter-Syndroms sein kann.

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Weil das Vorhandensein eines XXY-Chromosoms nicht „heilbar“ ist, können nur die Symptome bekämpft werden. Dazu zählen Testosteronmangel, eine verzögernde oder ausbleibende Pubertät, Brustentwicklung, kleine Hoden sowie Zeugungsunfähigkeit. Potenzielle Folgen können aber auch Hochwuchs, Lernprobleme, Sprachentwicklungsverzögerungen, Osteoporose oder eigenbrötlerisches Verhalten sein.

Was hier als eigenbrötlerisches Verhalten umschrieben wird, in anderen Darstellungen auch als Schüchternheit, beschreibt in Wahrheit autistische Züge. Erst wenn eine bestimmte Anzahl an Diagnosekriterien erfüllt ist, spricht man von Autismus. Die Mehrheit der (bekannten) Klinefelter-Autisten hat vor der Einführung der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung die Diagnose Asperger-Syndrom oder atypischer Autismus erhalten, d.h., sprachlich und kognitiv keine schwerwiegenden Einschränkungen oder nicht alle Symptome stark ausgeprägt. In einer Britischen Broschüre zum Klinefelter-Syndrom werden aber etliche Verhaltenssymptome sowie sensorische und motorische Auffälligkeiten aufgezählt, die ebenso bei Autismus auftreten.

„Ich fühlte mich nicht als Mann“

„Wenn ich auf meine Schulzeit zurückblicke, waren es vor allem Lernschwierigkeiten, Konzentrationsprobleme und eigenbrötlerisches Verhalten. Hinzu kommt, dass ich schnell reizbar bin. Diese Symptome treten bei mir immer noch auf, aber seltener“, sagt Alex und ergänzt: „Das liegt daran, dass ich seit acht Jahren alle zwölf Wochen eine Testosteronspritze erhalte. Dann schießt mein Testosteron hoch, ich werde ruhiger, kann mich besser konzentrieren und chille im Park statt zuhause im Bett zu liegen. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, alle zwölf Wochen, ein Leben lang.“

Ich brauche das Testosteron. Das Gefühl, wenn auf einmal alles wieder normal wird. Alex, Betroffener des Klinefelter-Syndroms

Nachdem das Syndrom bei Alex diagnostiziert worden war, hatte er eine Zeit lang große Probleme, sein Anderssein zu akzeptieren. Er hinterfragte Vieles: „Ich sah gleichaltrige Männer mit anderen Augen: Haben sie Bartwuchs? Haben sie einen ausgeprägten Adamsapfel? Haben sie stärkeren Haarwuchs an Armen und Beinen? Ich fühlte mich nicht als Mann. Ich schämte mich sogar, kurze Hosen zu tragen. Ich war mir sicher, dass mich jeder Typ anschaut und denkt: Der ist ja kein Mann.“ Der Unterstützung seiner Familie ist es zu verdanken, dass er nicht depressiv wurde.

Heute ist das anders. Auch wenn es manchmal noch anstrengend sei, wenn der Testosteronspiegel sinkt, er nervöser wird und Stresssituationen plötzlich nicht mehr mit der gewohnten Gelassenheit angeht, könne er heute sagen:

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„Ich habe keine seltene Krankheit“

Nicht ganz glücklich ist Alex mit der Bezeichnung „seltene Krankheit“: „Ich habe keine seltene Krankheit. Ich habe einen Chromosomen-Defekt. Mediziner nennen es gerne Krankheit, aber das ist es nicht.“ Maja Hempel bestätigt das, sie spricht nicht von einem „Chromosomen-Defekt“, sondern von einer bestimmten „Chromosomen-Konstellation“.

Nichtsdestotrotz sei das Klinefelter-Syndrom ihrer Meinung nach richtig aufgehoben am Tag der seltenen Krankheiten: „Es kann diagnostiziert werden und wir haben bei seltenen Krankheiten oft das Problem, dass wir sie nicht behandeln können. Da ragt das Klinefelter-Syndrom heraus, weil es behandelt werden kann und diese Behandlung auch erfolgreich ist. Deshalb muss das Bewusstsein in den Köpfen der Menschen dafür vergrößert werden. Vor allem bei Kinder- und Jugendärzten, Schulen und Eltern.“