Auf der Suche nach sich selbst

Seit dem Wissen, dass dieses zusätzliche X-Chromosom mehr bedeutet als nur Testosterondefizit, sind jetzt drei Monate vergangen. In dieser Zeit bin ich ein neuer Mensch geworden.

Begonnen hat alles mit diesem Fachartikel, den mir eine gute Fee dankenswerter Weise als Volltext schickte. Einen Verdacht, dass ich anders bin, hatte ich davor schon. Und dass ich mich in vielem mit Klinefelter nicht identifizieren konnte, ebenso. Ich konnte es nur nie in Worte verfassen. Sehr wohl habe ich über die Jahre gemerkt, dass ich nicht weiterkomme. Dass die Kommunikation scheitert. Dass ich Schwierigkeiten habe, Emotionen auszudrücken, vor allem richtig auszudrücken, und dass mich großteils nicht interessierte, was meine Mitmenschen taten und erzählten. Ich denke auch an die Stärken von mir, die über das hinaus gehen, was für meine Mitmenschen gewöhnlich ist. Stärken, die manchmal zwanghaft wurden.

Ich hab mich immer exzessiv mit etwas beschäftigt. Stundenlang, tagelang. Soziale Kontakte wurden zweitrangig. Lieber noch eine Fallstudie zu einem naturwissenschaftlichen Thema schreiben, noch einen Fachartikel auf die Homepage stellen. Umfangreich recherchieren, viel Aufwand betreiben, obwohl es im Studium nicht verlangt wurde. Ich hab immer mehr gemacht als ich musste – zumindest darin, was mich interessierte. Nie gab ich mich zufrieden. Ich konnte aus mir herausgehen, ich schrieb fremde Professoren an, weil ich das Schreiben mochte. Weil ich Gefallen darin fand, meine Englischkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Und es kam Feedback zurück, das mich bestärkte. Deswegen habe ich auch heute keinen übertriebenen Respekt davor, Psychologen, Mediziner oder Genetiker anzuschreiben, einfach auf gut Glück, denn die meisten antworten ja doch. Interessanterweise eher die Englischsprachigen als die Deutschen. Die Stärken hab ich umgesetzt, ich hab zwei wundervolle Websiten gestaltet, die ein Kompendium über mein Spezialinteresse abliefern, das sich wiederum in Subinteressen aufteilt. Ich könnte damit Bücher füllen.

Diese Schreib- und Informationswut ist so sehr ein Teil meines Wesens, dass ich ihn nicht ausklammern kann. Er fällt nicht unter das, was unter Klinefelter-Syndrom verstanden wird: „Lernschwierigkeiten, Rechtschreibschwächen“. Er ist das genaue Gegenteil, ich lese, seit ich denken kann, und ich schreibe, seit ich lese. Dialoge gelangen mir nie, sonst wäre ich Schriftsteller geworden. Ich konnte mir nie vorstellen, wie ein typischer Dialog so aussieht, da ich mich nicht in die Rolle des anderen versetzen konnte. Theory of Mind – immer wieder macht es mir einen Strich durch die Rechnung. Aber meine Schreibwut hat deswegen nicht nachgelassen. Sie hat sich höchstens verlagert, weg von der Fiktion, hin zur Beschreibung des Alltags; der ist spannend genug, statt sich etwas ausdenken zu müssen.

Mein IQ-Test hat damals ergeben, dass ich in Naturwissenschaften sehr gut bin, in Sprachen hingegen schlecht. Tatsächlich waren die Noten anders herum. Meine „processing time“ in den Naturwissenschaften war zu langsam, um mitzukommen, um Probleme zu lösen, jedenfalls vermute ich das heute. In Sprachen fühlte ich mich hingegen wohl. Als einziger Mann wählte ich Französisch (statt Englisch) als Leistungskurs, und verlernte Englisch dennoch nicht. Sprechen fiel mir immer schwerer als Schreiben und Lesen. Sätze in eine logische Reihenfolge bringen. Aber ich war gut im Vokabeln lernen. Ich brachte mir auch etwas Latein bei, las viel in einem alten Fremdwörterbuch, das ich zuhause fand. Ich lerne Dialekte sehr schnell, das Verstehen, den Sinn, die Vokabeln. Mir macht das irre Spaß und dies hier ist der erste Text, der der mir aus der Seele spricht. Selten habe ich so eine Erleichterung verspürt, endlich verstanden zu werden. Ich habe darüber schon viel geschrieben, ohne zu wissen, warum das so ist. Das Talent, Sprachen schnell zu erlernen, aber auch die Notwendigkeit, andere zu imitieren. Bisweilen tu ich das zu oft, andere kopieren, in der Frequenz des anderen zu senden, statt auf meiner eigenen.

Jede Woche setzt sich ein weiteres Puzzlestück zusammen, klärt sich ein weiteres Rätsel aus der Kindheit. Die Tage mit Frust ob der mangelnden Fähigkeiten, mit anderen Menschen umzugehen – völlig unabhängig davon, ob das wildfremde Menschenmassen sind, die einen Fluchtinstinkt auslösen (außer man ist betrunken genug, wie auf einem Konzert), oder sehr nahestehende Menschen, sind allgegenwärtig. Trotz der Ursachen für so manches Verhalten, das mir bekannt ist. Aber eine Ursache zu kennen ist nicht gleichzeitig die Lösung. Das Gehirn ist nicht so leicht zu überlisten. Hier schlägt das rationale Denkgefüge eiskalt zu. Du machst das, weil Du das hast und das…, das ist ein Statement, aber es geht nicht weiter. Statt darüber zu fluchen, was immer noch nicht geht, versuche ich mich abzulenken. Versuche weiterhin Klarheit zu bekommen. Meine Gedanken sind frei. Was andere als „Du steigerst Dich jetzt aber arg hinein!“ betrachten, ist für mich wie des Kindes Gefühl, als es bei der Mondlandung zusieht. Neugierig, was da gerade geschieht, und aus dieser Neugier eine Fragestunde machen.

Meine Fragestunde ist ein Zeitraum von drei Monaten geworden. In der Zeit hat sich viel Nebel aufgelöst, hat ein Fundament freigegeben, was ich so nicht erwartet hatte. Es hat zwar einerseits ein Bauchgefühl gefestigt, aber auch viel mehr freigelegt, was lange unter der Oberfläche lag. Wie seit jeher üblich, obwohl ich schriftlich und bisweilen nach außen als sehr gefühlsduseliger Mensch wirke, bin ich zutiefst rational. Und dann interessiert mich, warum ich so bin. Was dieses Testosterondefizit mit mir macht, was das zusätzliche X-Chromosom anstellt, warum meine Amygdala kleiner ist als bei denen mit 46 Chromosomenpaaren. Wie dieses ganze Konglomerat aus Hormonen, Genen und Gehirnaktivität überhaupt funktioniert. Ich stehe erst am Anfang, aber das Interesse ist plötzlich so groß wie bei meinem allerersten Spezialinteresse auch, das mein Leben nun seit dreiundzwanzig Jahren beeinflusst.

Warum sollte ich diese Suche aufgeben? Ich sehe sehr wohl, was ich nicht habe, ich vermute auch, dass Männer mit XXY eher atypisches Autismus-Verhalten aufzeigen, wenn sie denn als solche klassiziert werden. Weniger Routinen, weniger Stimming. Aber ich weiß es nicht. Als ich Betroffene kennenlernte, wusste ich so gut wie nichts über die Auswirkungen auf das Verhalten. Und die Gelegenheiten waren spärlich, die Zeit, die wir zusammen verbrachten kurz. Vielleicht finden die Forscher noch mehr darüber hinaus.

Für mich bedeutet jedenfalls dieses exzessive Interesse und Beschäftigung mit dem, was ich bin und was ich vermute, schon immer gewesen zu sein, eine immense Erleichterung, ein ganzer Felsen, der von einem abbricht, und mit jedem Aha-Erkenntnis steigt das Selbstbewusstsein, auch offen damit umzugehen. Denn was soll mich noch verletzen können? Ich weiß, warum ich so bin, ich arbeite aktiv daran, ich gehe es an – was will man mir noch vorwerfen?