Zum Einstieg ins Thema Klinefelter-Syndrom

Noch nie davon gehört? Nicht tragisch. Über zwei Drittel aller Betroffenen wissen nicht einmal, dass sie es haben. Aus welchen Gründen Sie auch immer hier gelandet sein – wahrscheinlich verbinden Sie damit eine Hormonstörung, Unfruchtbarkeit oder möglicherweise Intersexualität.

Der Begriff Klinefelter-Syndrom ist eine nicht immer zutreffende Bezeichnung für eine genetische Besonderheit bei Männern: 47, XXY. Das zusätzliche X-Chromosom bewirkt niedrige Werte von Geschlechtshormonen und teilweise ein feminines Erscheinungsbild, das auch nach innen zu ausgeprägt sein kann.

XXY erweitert die binäre Geschlechteridentität (Mann XY und Frau XX)

Abhängig von der individuellen Identifikation des Betroffenen mit seiner Geschlechteridentität (Gender), liegt ein Mangel an Testosteron vor (Hypogonadismus), und damit das Klinefelter-Syndrom, das typischerweise mit künstlich zugeführtem Testosteron behandelt wird. Für jene im 47,XXY-Spektrum, die sich nicht im binären Geschlechterbild wiederfinden (also nicht als Mann, nicht zwingend aber als Frau identifizieren), ist eine Östrogentherapie genauso möglich und wird erfolgreich angewendet.

Klinefelter-Syndrom und 47,XXY sind nicht dasselbe.

Damit wird auch deutlich, dass man die Begriffe Klinefelter-Syndrom und 47,XXY nicht austauschbar verwenden kann, zumal keiner der Betroffenen alle Symptome bzw. in der gleichen Ausprägung das Klinefelter-Syndrom zeigt. Was aber ist 47,XXY? Eine genetische Veranlagung – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Ärzte und Forscher sehen das bisher anders – sie sprechen in Publikationen fast ausschließlich von Männern und Testosteronmangel. Bisher zeigen Studien im Vergleich zu 46,XY-Männern keine erhöhte Häufigkeit von Intersexualität oder Transgender, dennoch sollte man im Kopf behalten, dass es diese Fälle gibt, und die Standardtherapie mit Testosteron hier problematisch sein kann.

Kinderwunsch

Unfruchtbarkeit ist oft ein Thema, wenngleich moderne Reproduktionstechniken mithilfe von finanziellen Anstrengungen einen Kinderwunsch erfüllen können. Sonst gibt es zudem die Möglichkeit der Adoption. Betroffene, die keine Kinder bekommen oder adoptieren können, leiden unter doppelter Diskriminierung. Steuerlicher Nachteil und Stigmatisierung durch die Gesellschaft, die zudem Familien bevorzugt (etwa im Urlaub, Freizeitangebote, Job).

Intelligenz

Der Intelligenzquotient der Betroffenen umfasst die ganze Bandbreite, wenngleich er meist leicht unter dem Durchschnitt liegt. Das ist aber auch auf die verringerte verbale Intelligenz zurückzuführen. Sie tun sich mit dem reden, lesen und schreiben häufig schwerer als der Durchschnitt, während jedoch häufiger in Bildern oder Mustern gedacht wird. Sie sind tendenziell häufiger Künstler, Grafiker, Fotografen oder im Naturwissenschafts-, Ingenieurs- und IT-Bereich zuhause.

Unterschied Down-Syndrom und Klinefelter-Syndrom

Das Down-Syndrom können Männer und Frauen bekommen, das Klinefelter-Syndrom nur Männer. Beim Down-Syndrom liegt der gesamte oder Teile des 21. Chromosoms dreifach vor (Trisomie 21), während bei Klinefelter ein ganzes X-Chromosom zu viel ist. Bei Frauen gibt es die Variante „ein X zu wenig“ (45,X), die Turner-Syndrom genannt wird.

Verursacht Klinefelter bzw. Testosteronmangel Autismus?

Diese Frage wird immer wieder von Betroffenen im Spektrum gestellt. Nach der Sichtung aller Literatur, die ich bisher gelesen habe, muss man anders an die Frage herangehen: Am Anfang steht die genetische Anomalie 47,XXY – diese verursacht den Testosteronmangel bzw. Klinefelter-Syndrom. Sie kann aber auch für ein erhöhtes Risiko für ein Metabolisches Syndrom oder Osteoporose sorgen. Ebenso sind neurologische Veränderungen damit verbunden, die recht unterschiedlich ausgeprägt sind. In den Niederlanden wird ein Drittel der Betroffenen mit atypischen Autismus diagnostiziert, sonst sind es zwischen 10 und 50 %, bei ADS bzw. ADHS sogar rund zwei Drittel. Frühzeitige Therapie mit Testosteronzufuhr kann Wortfindungsstörungen mildern, die Aufmerksamkeit verbessern und auch sonst indirekt positive Auswirkungen auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen haben, keine Verbesserungen gibt es meines Wissens beim Kurzzeitgedächtnis, Reizfilterschwäche und bei der Kommunikation.

Ratgeber für Betroffene und Angehörige, die z.B. in Großbritannien, den Niederlanden und in den USA erstellt worden sind, empfehlen eine Autismus-Diagnostik, da Klinefelter als Störungsbild oft nicht bekannt ist, und Schulen oder Behörden nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Zurück zur Ausgangsfrage: Klinefelter und Autismus können als Doppeldiagnose existieren, weil beide ursächlich auf das zusätzliche X-Chromosom zurückgehen. Klinefelter ist keine Ausschlussdiagnose für etwas anderes.

Warum herrscht so eine große Vielfalt im 47,XXY-Spektrum?

Auf einem X-Chromosom sind über 1000 Gene enthalten, sodass Frauen allgemein eine höhere Gendichte als Männer besitzen. Sie können defekte Gene leichter durch die gesunde Kopie des 2. X kompensieren. Deswegen überleben Frauen eher bei der Geburt als Männer. Sonst sind die meisten Gene des zweiten X-Chromosoms allerdings stumm geschaltet (X-Inaktivierung), sowohl bei Frauen als auch bei 47,XXY-Männern.

Laut Dr. Tartaglia von der eXtraordinarY Kids Clinic in Denver kann man die X-Inaktivierung auf drei Arten betrachten:

  • Die beiden X-Chromosomen könnten ihre Botschaften verdoppeln – die Botschaft damit verstärken (zu viel)
  • Die beiden X-Chromosomen könnten widersprüchliche Botschaften senden – eines sagt “ja” und das andere “nein” (gemischte Botschaft)
  • Beide X-Chromosomen könnten stumm bleiben, wenn eines von beiden senden sollte (ungenügend)

Je nach dem, welche Variante vorliegt, ergibt sich ein unterschiedlicher Genmix und eine individuelle Ausprägung.

Ist das Klinefelter-Syndrom eine Behinderung?

Die Genvariante 47,XXY ist für sich keine Behinderung – erst die Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen können einen Behindertenstatus notwendig machen, z.B. Lernschwächen, Osteoporose, Diabetes oder Unfruchtbarkeit.

Mehr Infos im restlichen Blog sowie in diesem Übersichtsartikel.

Medizinern kann ich zudem diese Literatursammlung ans Herz legen: Literaturliste zum Klinefelter-Syndrom