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Danke für das vergleichsweise große Interesse an diesem Nischenthema.

Seit dem ersten Blogeintrag vom 8. Mai 2014 sind viele für mich neue Informationen über das Klinefelter-Syndrom und Genotyp 47,XXY hinzugekommen.

Die wichtigsten Aha-Erkenntnisse für mich waren:

XXY ist nicht dasselbe wie Klinefelter-Syndrom
Das Klinefelter-Syndrom beschreibt mögliche Auswirkungen des Testosteronmangels (= Hypogonadismus), nicht aber alle Auswirkungen auf das Sozialverhalten. Zudem ist ein gewisser Anteil der Menschen mit zusätzlichem X-Chromosom nicht für Testosteronersatztherapie geeignet, weil sie sich z.B. nicht als Mann identifizieren bzw. mit ihrem Körper mit Testosteronmangel zufrieden sind. Einige XXY haben auch normale Testosteronwerte. XXY ist die einzige Gemeinsamkeit: das zusätzliche X-Chromosom. XXY-Menschen bestehen zudem nicht nur aus einem Syndrom, sondern haben auch ihre Stärken.

Psychische Probleme sind nicht ausschließlich auf Testosteronmangel/Unfruchtbarkeit zurückzuführen
Verschiedene Umfragen und Studien ergaben, dass der Zusammenhang von Depressionen mit dem Testosteronmangel nur indirekt gegeben ist. Die Therapie verbessert zwar Energie, Ausdauer und allgemeines Wohlbefinden, gravierendere Auswirkungen haben aber kommunikative Schwierigkeiten, etwa beim Erkennen von Gesichtsausdrücken (z.B. traurig versus wütend) und Interpretation des Tonfalls. Missverständnisse sind an der Tagesordnung. Viele tun sich zudem damit schwer, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen, allerdings nur im Augenblick – die Verarbeitung dauert nur länger. Erschwerte Impulskontrolle und Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen (Folgen von Handlungen, Verarbeitung von Informationen, plötzliche Änderungen) zählen ebenfalls zu den Herausforderungen, die gehäuft bei XXY-Menschen auftreten.

Viele Menschen mit XXY haben eine Reizfilterschwäche
Umfragen, persönliche Mitteilungen und Erlebnisse, und zumindest eine Forscherstudie zeigen eine Reizfilterschwäche (Sensory Gating Disorder) bei XXY-Menschen, im weiteren Sinne als Sinnesverarbeitungsstörung (Sensory Processing Disorder) bezeichnet, da sie auch den Gleichgewichtssinn und Körperwahrnehmung (Grob- und Feinmotorik) betrifft. Am häufigsten sind sonst das Gehör (Geräuschempfindlichkeit) und das Sehen betroffen, aber auch Riechen/Schmecken und Tastsinn.

Psychiatrische Diagnosen wie ADHS und Autismus treten häufiger auf
Wegen der vermuteten, großen Dunkelziffer an unerkannten XXY-Menschen ist es schwierig, den Anteil zu schätzen. ADHS wird je nach Studien bei rund 60-80 % der XXY-Menschen auftreten, wobei bei der Hälfte der unaufmerksame (inattentive) Typ überwiegt; eine Diagnose aus dem Bereich des autistischen Spektrums bei rund 30-50 %, wobei nach dem ICD-10/DSM-IV sowohl Asperger-Syndrom, Hochfunktionaler Autismus als auch Tiefgreifende Entwicklungsstörung – nicht näher spezifiziert (PDD-NOS) bei XXY diagnostiziert werden. Eine Studie zum Thema Stigmatisierung zeigt, dass Eltern vorwiegend wegen der Symptome beunruhigt sind, die Diagnose selbst aber das Stigma nur unwesentlich verschärft, die Möglichkeit, therapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen zu können, macht die Angst vor Stigmatisierung aber wett.
Reizfilterschwäche und Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen zählen zu den Kernsymptomen von Autismus, weswegen ein Großteil der XXY-Menschen autistische Merkmale zeigt.

Testosteronspritzen sorgen eher für Unfruchtbarkeit als Gelanwendungen
Bisher war die gängige Aussage, dass man in der Pubertät und Jugend noch am ehesten lebensfähige Spermien in den Hoden produzieren kann, diese Fähigkeit aber zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr verloren geht. Studien aus den USA zeigen, dass auch im Erwachsenenalter noch Spermienbildung möglich ist, und dass es unter anderem davon abhängt, ob mit Spritzen gearbeitet wurde, die den Testosteronwert zu rasch ansteigen lassen und damit die Spermienproduktion einstellen, oder mit Gel, welche für viel geringere, aber gleichmäßigere Dosen sorgen. In den USA verwendet man außerdem zusätzlich zur Testosteronzufuhr noch Aromatase-Blocker. Aromatase ist ein Enzym, das Testosteron in Östrogen umwandelt. auch dies soll die Fruchtbarkeit länger erhalten. Spritzen sorgen zudem für einen raschen Anstieg, aber auch einen stetigen Abfall bis zur nächsten Dosis, je nach Intervall kann es vermehrt zu Stimmungsschwankungen kommen (anstatt diese zu bekämpfen).

Mangel an Langzeitstudien in allen Bereichen
Zu Diabetes, Osteoporose, Muskelmasse sowie zu Sozialverhalten, Wohlbefinden und weiteren Auswirkungen des Testosteronmangels gibt es bisher keine Langzeitstudien. Es gibt einige Querschnittstudien (= Momentaufnahmen), oftmals aber mit uneinheitlicher Behandlungsform, und die einzige Langzeitstudie zu Wohlbefinden wurde nicht mit Placebos kontrolliert. Die meisten Hinweise auf Verbesserungen durch Testosteronzufuhr beziehen sich auf Männer mit normalem Chromosomensatz (46,XY), auch von vielen XXY-Männern gibt es positive Rückmeldungen (Energie, Ausdauer, Konzentration).

Negative Rückmeldungen kommen vorwiegend aufgrund mangelnder Fachkenntnisse des Arztes (XXY-Spezialisten gibt es weltweit sehr wenige), zumal auf einen Arzt nur sehr wenige XXY-Patienten kommen, sowie wenn sich XXY nicht als Mann identifizieren und irreführend/gezwungenermaßen behandelt wurden.

Intersexualität kann, aber muss kein Thema sein
Auch wenn sich Vereine und Eltern gegen dieses Tabuthema wehren, aber: XXY-Menschen besitzen eher als XY-Menschen einen weiblichen Körperbau und sind tendenziell feinfühliger und emotionaler als XY-Männer. Genauso wie unter den XX/XY-Menschen auch gibt es bei XXY intersexuelle Formen. Sowohl „echte“ intersexuelle Männer als auch jene, die ihren weiblichen Körperbau so akzeptieren, gehören mit zum XXY-Spektrum und nicht ausgegrenzt.

Gene und Hormonmangel als Ursachen
Rund 70 % des Sozialverhaltens ist genetisch bedingt. Da ein zweites X-Chromosom vorhanden ist, auf dem auch einige Gene aktiv sind, spricht man vom Gendosierungseffekt. Weitere Gene hat man entziffert, die für das (unterschiedliche) äußere Erscheinungsbild bei XXY-Menschen verantwortlich sind.

Zum Hormonmangel ist festzustellen, dass es kaum direkte Messungen im Fötus gibt, ein paar Anhaltspunkte für Testosteronmangel während der Mini-Pubertät (erste drei Monate) und häufigere Mängel während/nach der Pubertät bzw. im frühen Erwachsenenalter.

Hinweise auf einen Testosteronmangel im Fötus liefert jedoch das Fingerlängenverhältnis 2D:4D (D für digitus = Finger), das Verhältnis der Länge vom Zeigefinger zur Länge vom Ringfinger. Es korreliert mit dem Verhältnis von Estradiol zu Testosteron im Fötus-Stadium. Je geringer die Unterschiede der Fingerlängen, desto niedriger der Testosteronspiegel vor der Geburt. In dieser Studie konnte man tatsächlich einen Mangel nachweisen, allerdings trifft das nicht bei jedem zu.

Fazit: Unabhängig vom zeitlichen Auftreten des Testosteronmangels steht das zweite X-Chromosom, wobei die Forscher noch nicht wissen, welche Gene aktiv sind und welche für die Vielfalt im XXY-Spektrum verantwortlich sind, warum etwa manche XXY einen starken Testosteronmangel zeigen und andere nicht, warum manche starke autistische Merkmale zeigen, andere nicht, warum viele Gynäkomastie und Legasthenie entwickeln, einige jedoch nicht, etc. Und dann ist da noch der neurologische Ansatz, also Vermessungen von Gehirnbereichen, auch da gibt es einige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.

Gewisse Stärken häufen sich bei XXY
Sie achten mehr auf Details, denken häufiger in Bildern oder Mustern und sind oftmals kreative Menschen. Gerade die Defizite in der Kommunikation und Beziehungen knüpfen mit Gleichaltrigen wandeln sie in Stärken um, indem sie sich ihren Interessen intensiver widmen und zum Experte ihres Spezialinteresses werden. Mathematiker, Grafiker, Künstler, Musiker und Fotografen, aber auch Ingenieure findet man häufiger unter XXY. Sonst sagt man ihnen nach, besonders sensibel zu sein, einen großen Gerechtigkeitssinn zu haben, Ehrlichkeit (bis zum Grad der Direktheit), Langzeitgedächtnis und Liebe zu Tieren.

Vorläufiges Résumée

XXY ist eine genetische Variation, die die Vielfalt von XX und XY um eine Facette erweitert. XXY geht häufig mit einer Sinneswahrnehmungsstörung einher, die sich auf alle sieben Sinne auswirken kann. Die Reizfilterschwäche erlaubt aber auch einen geschärften Blick auf Details und erweitert möglicherweise das Langzeitgedächtnis, um die Informationen dauerhaft zu verankern. Dadurch können XXY große Mengen an Wissen in ihren Spezialgebieten anhäufen.

Nur wenige von uns werden je in der Lage sein, sich fortzupflanzen, ihre Gene weiterzugeben, aber das gibt uns – im Licht von Abtreibungsbefürwortern und vorgeburtlichen Gentests – trotz allem ein Lebensrecht. Eltern werden nie für ihr Kind entscheiden, ob es später Kinder bekommen will, auch bei XX und XY nicht. Das bleibt die Privatsache des Kindes. XXY entscheiden sich etwa auch für eine Adoption oder für Spendersamen. Die Natur findet immer einen Weg, Kinder großzuziehen – selbst, wenn es nicht das eigene ist.

Was ich mir für die Zukunft wünsche:

Eine offene und ehrliche Diskussion innerhalb des XXY-Spektrums, aber auch zwischen Betroffenen und praktizierenden Ärzten, keine Mauer des Schweigens, der Zensur und der Majestätsbeleidigung, wenn man einen Arzt auf etwas hinweist, was er vielleicht noch nicht gewusst hat. Vertrauen zum behandelnden Arzt zu haben ist wichtig, manchmal der einzige Rettungsanker für einen XXY, der auf so vielen verschiedenen Ebenen mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat.