Neurologische Merkmale von 47,XXY

Im Juli 2015 erschien ein Artikel der Universität Leiden über „Neural systems for social cognition: gray matter volume abnormalities in boys at high genetic risk for autism symptoms, and a comparison with idiopathic autism spectrum disorder“ (Goddard et al.) – hier als PDF vollständig herunterladbar.

Die Studie beschäftigt sich mit den „grauen Zellen“ bei Buben mit 47,XXY. Diese haben genetisch bedingt eine hohe Wahrscheinlichkeit für Autismus. Die Ergebnisse wurden mit 46,XY und mit Buben verglichen, deren Autismus-Ursache unbekannt ist (auch idiopathischer Autismus genannt).

Einschub

Aufbau des Gehirns und die Bedeutung der grauen Substanz verständlich erklärt:

Zitat:

Alleine die Großhirnrinde nimmt in etwa die Hälfte des Hirnvolumens ein. Diese lässt sich in vier Lappen unterteilen. Hierbei übernimmt der Frontallappen die Aufgaben der Steuerung motorischer Vorgänge. Zudem ist er aber auch an der Steuerung von Antrieb, Motivation und weiterer psychischer Leistungen beteiligt. Parietal-, Temporal- und Occipitallappen dienen hauptsächlich der Verarbeitung von Signalen der Sinnesorgane. Die Sensibilität sowie alle Berührungsreize werden jedoch vom Parietallappen gesteuert. Die optischen Reize werden im Occipitallappen interpretiert. Der Temporallappen verarbeitet alle eingehenden akustischen Informationen. Die Großhirnrinde lässt sich in sechs Schichten definieren, welche über die Art und Verteilung der enthaltenden Nervenzellen definiert werden. Diese sechs Schichten tragen den Namen graue Substanz (graue Zellen).

Einschub Ende

Für die Studie hat man 16 Buben mit 47,XXY herangezogen, wovon 4 in Testosteronersatztherapie waren, sowie 16 Buben mit Autismus und 16 Buben mit normalen Chromosomensatz (46,XY) ohne gesundheitliche Auffälligkeiten („klinisch unauffällig“). Alle waren zwischen 9 und 18 Jahre alt. Keiner der Autisten wurde medikamentös behandelt. In der 47,XXY-Gruppe war der IQ niedriger, zudem traten häufiger Depressionen und Angsterkrankungen auf. 9 47,XXY-Buben wurden schon vor der Geburt genetisch identifiziert, die anderen 7 wurden über Selbsthilfegruppen und Aufrufe zur Teilnahme an der Studie gefunden. Ausgeschlossen wurden Personen mit einem IQ kleiner 60 und mit vorliegendem Substanzmissbrauch bzw. Schädigungen des Gehirns durch Tumore oder Schlaganfälle.

Um festzustellen, ob autistisches Verhalten bei den Teilnehmern vorliegt, verwendete man den SRS (Social Responsiveness Scale). Dabei wurde ersichtlich, dass selbst beim Fehlen einer formalen Autismus-Diagnose erhebliche Beeinträchtigungen bei sozialer Kommunikation und Interaktion vorliegen können. Dies trifft auf 47,XXY zu. Ebenso hat man vermehrt von Schüchternheit, sozialem Rückzug und mangelndem Durchsetzungsvermögen berichtet.

Durch Studien bereits bekannt:

Im Gegensatz zu idiopathischen Autisten sind Menschen mit 47,XXY …

  • tendenziell ängstlicher in Gesellschaft und neigen vermehrt zu sozialen Phobien
  • anders bei der Verwendung von Smalltalk, beim Teilen von Dingen mit anderen und beim Interesse an anderen Kindern
  • aufgrund gestörter Exekutivfunktionen darin beeinträchtigt, sich in die Perspektive der anderen zu versetzen („Theory of Mind“), während bei Autisten eher Sprache und Gesichtererkennung eine Rolle spielen
  • bei der Benennung von Gesichtsausdrücken verstärkt aktiv im Frontalhirn, während Autisten ihre Amygdala verstärkt aktivieren.

Folgende Gehirnstrukturen sind an der Entschlüsselung sozialer Reize beteiligt:

  • Der superior temporal cortex (super temporal gyrus, STG, und sulcus) ist für die grundsätzliche Verarbeitung von Gesichtsinformationen zuständig (z.B. Blickverlagerung und Mundbewegungen) sowie für visuelle Wahrnehmungen generell („biologische Bewegung“).
  • Die Amygala ist für komplexere soziale Bewertungen zuständig, die einschätzt, ob eine Information relevant ist und Bedrohung oder Gefahr erkennt.
  • Der Orbifrontale Cortex (OFC) beinhaltet viele Aspekte der sozialen Kompetenz und kognitiven Verarbeitung, inkl. der Bewertung von Sinnensreizen, Belohnungs- und Bestrafungsverhalten, Entscheidungsfreudigkeit, Theory of Mind, Selbstreflexion und die Wiedergabe von Gesichtsausdrücken und Identität
  • Der insular cortex vermittelt die Erkennung und Reaktion auf emotionale Reize und die Wiedergabe der eigenen Gefühle und Emotionen.
  • Der medial frontal cortex ist daran beteiligt, Gesichteridentität, Theory of Mind zu interpretieren und sein Ich von anderen zu distanzieren.

Ergebnis der vorliegenden Studie:

Nach dem SRS gibt es im Verhalten zwischen der 47,XXY-Gruppe und den idiopathischen Autisten keine markanten Unterschiede.

Die 47,XXY zeigen verglichen mit den 46,XY deutlich weniger graue Substanz …

  • im linken und rechten insular cortex
  • im linken OFC
  • im rechten STG

Die 47,XXY zeigen verglichen mit den Autisten außerdem deutlich weniger graue Substanz …

  • im linken und rechten insular cortex
  • sowie im linken OFC

Diskussion:

  1. Die Verringerung des OFC in der Studie könnte eine anatomische Ursache für Schwierigkeiten im Umgang mit äußeren Reizen, Selbstreflexion, Identität und Theory of Mind sein.
  2. Die Verringerungen im insular cortex passt zur leichteren emotionalen Erregbarkeit der 47,XXY verglichen mit der Kontrollgruppe. Sie lassen sich außerdem leichter von Emotionen bei Entscheidungen beeinflussen.
  3. Der STG spielt eine Rolle bei der Verarbeitung von Mimik- und Blickrichtungsänderungen. Die rechtsseitige Verringerung steht im Einklang mit früheren Studien zu Beeinträchtigungen bei 47,XXY.

Die Ergebnisse stehen im Einklang mit der Feststellung, dass sich eine große Zahl an X-Chromosom-Genen im Gehirn auswirkt, und 47,XXY daher anfälliger für Veränderungen im Gehirn sind.

Das zweite Ziel der Studie war der Vergleich der grauen Substanz zwischen 47,XXY und idiopathischen Autisten:

Während sich vom Verhalten her zwischen beiden Gruppe keine nennenswerte Unterschiede zeigten, gibt es bei 47,XXY Abweichungen im linken und rechten insular cortex sowie im linken OFC.

Schlussfolgerungen:

Das Autismus-Spektrum zeigt eine große Vielfalt. Zahlreiche Verknüpfungen zwischen Genen und Gehirnregionen führen zu ähnlichem autistischen Verhalten.

Frühere Studien stellten ebenso Abweichungen bei Erwachsenen fest, was darauf hindeutet, dass sich diese bereits frühzeitig manifestieren und über die Zeit hinweg recht stabil sind.

Kinder und Jugendliche mit 47,XXY und Autismus zeigen signifikante Abweichungen in Gehirnregionen, die das Sozialverhalten steuern. Das deutet darauf hin, dass das zusätzliche X-Chromosom erhebliche Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung hat.

Zudem konnte nachgewiesen werden, dass Verhaltensbeobachtung alleine nicht ausreicht, um Unterschiede zwischen Autismus und 47,XXY festzustellen.

Die Zusammenhänge zwischen Genen, Gehirn und Verhalten sind sehr komplex, das betrifft nicht nur 47,XXY, sondern mitunter auch Autisten.

Ergänzung:

Während die vorliegende Studie ausschließlich auf Defizite eingeht, hat der Kinderpsychiater Dr. Jay Giedd am Nationalen Institut für Gesundheit (in den USA) geforscht und eine groß angelegte und mehrjährige Studie bei 47,XXY-Kindern unternommen. Er zeigt auf, dass die graue Substanz auf der rechten Gehirnseite vergrößert ist. Dieser Gehirnbereich steuert räumliche und rechnerische Fähigkeiten („Denken in Bildern und Mustern“). 47,XXY könnten diese Stärke dazu verwenden, die verringerten linken Gehirnbereiche zu kompensieren, die Sprachfunktionen und soziale Fähigkeiten steuert, und Defizite in diesen Bereichen erklären. (Quelle, 2013)