3. Kapitel: Sequenzierung des autistischen Gehirns (Temple Grandin)

Im dritten Kapitel von „The autistic brain“ setzt sich Temple Grandin mit genetischen Ursachen für Autismus auseinander. Wie in den vorangegangenen Kapiteln auch fasse ich die – in meinen Augen – wichtigsten Erkenntnisse auf Deutsch zusammen. Es steht noch viel mehr darin, aber ich will keiner deutschen Ausgabe vorausgreifen, die hoffentlich noch erscheinen wird. Ein Anreiz, das Buch zu kaufen, sollte schließlich auch noch bestehen ;)

Zunächst fand man heraus, dass junk-DNA in Wirklichkeit kein junk (Abfall) sei, was Grandin immer logisch erschien, schließlich gebe es in einem Computerprogramm auch keine überflüssigen Kommandozeilen. Besonders, nachdem sich kleine Segmente von dunkler-Materie-DNA recht nahe an Genen befinden, die sie kontrollieren. Bis dahin dachten die Wissenschaftler an einen ausgedehnten Strang an DNA, der in Wirklichkeit aber eng ineinander verdreht ist.

Bei identischen Zwillingen gilt:

Selbst wenn der Genotyp identisch ist, könnten die Gene innerhalb der Zelle unterschiedlich arbeiten. Zudem kann der Genotyp zur Geburt nicht identisch sein, wenn es zu spontanen Mutationen in der DNA kommt.

Ein Satz an genetischen Unterschieden trägt zum individuellen Phänotyp bei.

Es wurde nach CNVs gesucht, copy number variations,

  • submikroskopische Verdopplungen
  • Löschungen
  • Neureihung von Sektionen der DNA

Diese Variationen, die in Länge und Position variieren können, besitzen das Potential, die Genfunktion zu unterbrechen.

Manche CNVs werden vererbt, andere entstehen spontan, daher de novo genannt.

Die meisten sind gutartig, aber auch einzigartig, d.h. wurden kaum häufiger als zwei Mal in einem Sample gefunden. Bei autistischen Kindern kommen unterbrochene Gene häufiger als bei der Kontrollgruppe vor. Jedes Kind zeigt unterschiedliche Störungen in unterschiedlichen Genen.

Es gibt zahlreiche möglicherweise Autismus verwandte CNVs, aber keinen einzelnen Ort, der mehr als 1 % der Fälle erklärt.

Warum sollte man erwarten, dass die Genetik von Autismus eine 1:1 Entsprechung zwischen Mutation und Diagnose zur Verfügung stelle, wenn Autisten untereinander verschiedenes Verhalten zeigen?

Eher tragen manche Mutationen zu vielen Diagnosen bei, z.B. intellektueller Beeinträchtigung, Epilepsie, ADHS, Schizophrenie – eine eins-zu-vielen-Beziehung.

Die Diagnose von Autismus beruht auf Verhalten, und Autismus teilt Verhalten mit anderen Diagnosen (z.B. ADHS, Schizophrenie, Borderline …). Es gibt bislang kein autismusspezifisches Verhalten.

Nach einer Studie geschehen CNVs vier Mal häufiger auf der Seite des Vaters als bei der Mutter. Mit steigendem Alter des Vaters nimmt auch die Zahl der de novo-Mutationen zu. Das ergibt Sinn: Spermazellen teilen sich alle 15 Tage und je älter der Vater ist, desto größer die Anzahl der Mutationen, die zu Autismus beitragen könnten.

Man weiß jedoch immer noch nicht, ob eine Mutation ein spezifisches autistisches Verhalten hervorruft, oder ob ein spezifisches Verhalten eine Vielzahl von Mutationen benötigt. In den letzten Jahren glaubt man eher an die „multiple-hit“-Hypothese, d.h. einzelne Mutationen für sich sind nicht ausschlaggebend, aber kommen mehrere zusammen, wird es brenzlig. Es scheint so, als sei die Entwicklung des Gehirns äußerst sensibel auf ein Ungleichgewicht bei der Gendosierung (Anzahl der Kopien eines Gens in einer Zelle).

Bislang wurden Vererbbarkeit und de novo-Mutationen betrachtet, eine weitere Möglichkeit sind Umwelteinflüsse.

Es wird allgemein akzeptiert, dass Autismus-Spektrum-Störungen das Ergebnis multipler Faktoren sind, dass es extrem schwierig ist, jemanden zu finden, der eine einzige Ursache für Verhaltenssymptome aufweist. Dennoch hat man es bisher versäumt, den äußeren Einfluss auf Gene zu berücksichtigen und Gene isoliert betrachtet. Die meisten Studien darüber sind jedoch widersprüchlich mit höchstens vagen Aussagen. Es wurde beispielsweise herausgefunden, dass Mütter, die Antidepressiva nehmen, ein leicht erhöhtes Risiko zeigen. Allerdings können Antidepressiva Leben retten bzw. die Lebensqualität deutlich steigern. Schwangere Mütter sollten daher das Risiko vorher mit ihrem Arzt besprechen.

Korrelation impliziere jedoch nicht zwangsläufig einen kausalen Zusammenhang. Wenn zwei Ereignisse gleichzeitig auftreten, kann es sich auch um Koinzidenz handeln.

Die 18.-Monat-Impfungen [Masern-Mumps-Röteln = MMR]  können nach kurzer Zeit schwere autistische Symptome hervorrufen, die sich als Folge einer Fehlfunktion der Mitochondrien, Mutationen der mitochondrischen DNA, entpuppt haben. Es gibt (Stand 2013) laut G. Bradley Schaefer, einem Neurogenetiker am Arkansas Children’s Hospital Research Institute , Berichte von Einzelfällen, aber keine objektiven Beweise für einen Einfluss von Mitochondrien auf Autismus.

[Anmerkung des Übersetzers: Die Studie über einen Zusammenhang zwischen MMR-Impfungen und Autismus wurde 2014 zurückgezogen]

Wirklich spannend ist, dass der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud bereits 1914 seiner Zeit weit voraus war, als er sagte …

Alle unsere vorläufigen Ideen in der Psychologie werden wahrscheinlich eines Tages auf einer organischen Substruktur wurzeln.

1920 führte er diesen Gedanken fort:

Die Defizite in unseren Beschreibungen würden wahrscheinlich verschwinden, könnten wir psychologische Begriffe durch physiologische oder chemische ersetzen. Wir könnten erwarten, dass Physiologie und Chemie überraschendste Informationen liefern und wir können nicht abschätzen, welche Antworten sie auf dutzende Jahre an Fragen geben. Sie könnten von einer Art sein, die unsere künstliche aufgebaute Hypothese zur Gänze wegfegt.

Exakt das ist heute der Fall. Neuroimaging und Genforschung bringen neue Antworten und vervollständigen die Definition von Autismus, die rein auf der Beobachtung von Verhalten basiert, eine Diagnosemethode, die ihre Tücken mit sich bringt [ siehe folgendes Kapitel – Zusammenfassung in Arbeit]

vorherige Kapitel-Zusammenfassungen:

1. Geschichte der Autismus-Diagnosen

2. Gehirnforschung