In den vergangenen Monaten ist meine Themenwahl sichtlich in Richtung Autismus gerückt. Das hat diverse Gründe.
Ich hab festgestellt, dass ich mich nicht über Klinefelter definiere, sondern über mein zusätzliches X-Chromosom. Letzteres ist neutral, erstes ist negativ belastet, da Klinefelter als chronisches Krankheitsbild bezeichnet wird. Klinefelter spielt in meinem Alltagsleben eine relativ kleine Rolle. Ich hadere auch nicht jeden Tag mit dem Schicksal, keine Kinder zeugen zu können, oder womöglich an Osteoporose oder Diabetes zu erkranken. Um dies vorzubeugen, gehe ich oft wandern und versuche mich so oft zu bewegen wie möglich. Klinefelter ist ein Spektrum, ebenso wie Autismus. Im Zuge meiner Recherchen fand ich heraus, dass es eine enorm große Variabilität bei den Eigenschaften gibt, die als typisch für Klinefelter angesehen werden. Nicht einmal der Testosteronmangel ist ein 100 %-Kriterium, und rund 8-10 % sind auch nicht unfruchtbar bzw. können *einige* mithilfe moderner Reproduktionstechniken dennoch Vater werden.
Es wäre falsch und ungerecht, die Betroffenen nur über ein Krankheitsbild zu definieren. Die Medizin beschäftigt sich naturgemäß nur mit den Defiziten, nicht mit den Stärken. Das soll im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass ich Autismus ausschließlich als Stärke wahrnehme. Aber Autismus lässt sich differenzierter betrachten als Klinefelter, zumal über Klinefelter in der Forschung noch große Wissenslücken bestehen – besonders im deutschsprachigen Raum.
Vom Hintergrundwissen her lässt sich über Autismus auch viel leichter schreiben als über Hormone, Neurologie und Genetik, was doch ein recht komplexes Fachgebiet ist. Ich möchte auch keine Behandlungstipps geben, denn für diese sind Fachärzte zuständig. Und ich schreibe ungern über ein Thema, wo ich selbst nicht durchblicke.
Ich kann’s nicht oft genug wiederholen:
Gegenwärtige Fallzahlen zeigen rund 10-30 %, in manchen Studien auch mehr, Anteil von Autisten unter Menschen mit Klinefelter-Syndrom. Meine liebste Grafik dazu stammt aus dem Vortrag der XXY-Forscherin Sophie van Rijn und zeigt auf, wo sich Menschen mit zusätzlichem X-Chromosom (47,XXY und 47,XXX) im Spektrum zwischen Nichtautismus und Autismus befinden, nämlich knapp unter dem Schwellenwert (Cut-off) für das Autismus-Spektrum.
Wer ein differenziertes Bild über Autismus lesen möchte, dem sei folgende Literatur empfohlen:
- Steve Silberman, NeuroTribes: The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity
- Temple Grandin: The Autistic Brain
- Rudy Simone: Asperger’s on the Job
- Ian Ford: A Field Guide to Earthlings
Differenzierte Darstellungen findet man auch von Francesca Happé und Lorna Wing, z.B. in einem Tagungsband über Hans Asperger von Arnold Pollak (Schattauer-Verlag, 2015)
Schon vor 15 Jahren (!) hat einer der Koryphäen der Autismis-Forschung, Simon Baron-Cohen, einen Text über Asperger-Autismus verfasst, der in Frage stellt, ob man diesen notwendigerweise als Behinderung betrachten müsse:
- Baron-Cohen S., Is Asperger’s Syndrome/High-Functioning Autism necessarily a disability?, Invited submission for Special Millennium Issue of Developmental and Psychopathology Draft: 5th January 2000
Es gibt auch eine Studie über die Berufsinteressen von Asperger-Autisten:
- Lorenz and Heinitz: Aspergers – Different, Not Less: Occupational Strengths and Job Interests of Individuals with Asperger’s Syndrome (Juni 2014)
Und nicht zuletzt ein spannender Artikel über Autismus und deren Beitrag zur Evolution: The Stone Age Origins of Autism
Der Nachteil der hier verlinkten Literatur ist, dass es sich überwiegend um englischsprachige Beiträge handelt (ich als Übersetzungsfetischist versuche so viel wie möglich ins Deutsche zu übertragen) – man könnte sich mal fragen, warum das so ist, und warum im deutschsprachigen Raum so wenig DIFFERENZIERTE Artikel über Autismus erscheinen, die nicht nur die Leidensseite betonen.