Negative Umfeldeinflüsse wirken wie ein Verstärker. Wer nicht wie ein Fels in der Brandung steht, wird fortgespült.
Sensory Processing Disorder (SPD)
Wahrnehmungsverarbeitungsstörung heißt die sperrige Übersetzung dessen, was man auch Reizüberflutung nennt. Es gibt sie bei allen Sinneswahrnehmungen:
- taktil (Berührungsängste, unterschiedliches Wärme- und Kälteempfinden)
- auditiv (Geräusche, Unterhaltungen)
- olfaktorisch
- visuell (auch Licht)
- und nicht zuletzt auch emotionell
- auch die Überflutung mit Gedanken zähle ich dazu – wenn so viele Gedanken auf einen einprasseln, dass man sie nicht mehr verarbeiten kann, nicht mehr priorisieren kann, was wichtig und unwichtig ist
Statt SPD könnte man auch Filterstörung sagen, denn die Informationen nach Wichtigkeit zu filtern, daran hapert es bei hypersensiblen Menschen.
Ich schildere vor allem die auditive Reizüberflutung, die bei mir von den Sinneswahrnehmungen her am stärksten ausgeprägt ist:
Es gibt entbehrliche und unentbehrliche Reizüberflutung.
Unentbehrliche Reizüberflutung ist wohl der Lärmpegel in einem Lokal. Menschen unterhalten sich, wer würde es ihnen übelnehmen? Vielen Menschen gelingt es, den Umgebungslärm auszublenden; sie unterhalten sich einfach weiter; einigen Menschen fällt dies schwerer; sie brüllen gegen den Umgebungslärm an, die Diskussion wird mühsam; dann gibt es Menschen wie mich, für die jeder Nachbartisch die gleiche Lautstärke hat. Geräusche wie knallende Biergläser, Wortfetzen, sich erhebende Stimmen – sie gelangen in unverminderter Intensität zu mir, vermengen den Geräuschbrei zu einem unverständlichem Konglomerat, in dem ich gar nichts mehr verstehe. Die Reizüberflutung steigert sich bis zum Overload. Bis das Verlangen, aufzustehen und zu zahlen, größer wird, man nur noch gedankenverloren an seinem Bier herumsitzt und mit dem Bierdeckel herumspielt. Der Lokalbesuch wird so zur Qual. Ich vermeide daher allzu volle, große Bierlokale. Schanigärten und Gastgärten sind hingegen erträglicher, nicht zuletzt wegen der verminderten Rauchbelastung.
Entbehrlich erscheint hingegen die tägliche Reizüberflutung in den Öffis, auf den Straßen, an den Haltestellen. Überall wird telefoniert, überall hört man diesen nervige Melodie als Signalton, wenn eine neue Whatsapp- oder Facebooknachricht eingetrudelt ist. Eine Zugfahrt lang hatte ich das mehrfach in der Stunde – im Bordrestaurant, wohin ich mich regelmäßig zurückziehe, weil dort meist weniger telefoniert wird. Wer isst, kann nicht telefonieren. Immer häufiger ist man von Menschen umgeben, die ihre Umgebung überhaupt nicht mehr wahrnehmen, vertieft sind in ihr Smartphone und vor allem telefonieren, telefonieren, telefonieren. Zu jeder Tageszeit. Die rücksichtlos aus ihrem Privatleben erzählen, das mich gar nicht interessiert. Wie Studien erwiesen haben, hört das Ohr aber trotzdem mit, weil es versucht, das Gespräch zu ergänzen, den anderen Gesprächsteilnehmer zu ersetzen. Phantomschmerzen der anderen Art. Die Reizüberflutung verstärkt sich bei mehreren Gesprächen gleichzeitig; dann bimmelt hinter einem das Handy in einer weiteren Tasche, aber die Dame braucht gefühlte Minuten, bis sie merkt, dass es ihr Handy ist, was da klingelt, obwohl es einen unverwechselbaren, nervigen Klingelton hat, den sonst niemand in diesem Abteil hat; dann wird das Handy hervorgekramt, weitere gefühlte Minuten geschaut, wer denn überhaupt anruft und ob sie abheben soll. Dutzendfach erlebt man das am Tag in den Öffis, dazu die Enge, das Aufeinanderstehen, das Schubsen, der zwanghafte Griff in die Jackentaschen, ob alles noch da ist, dass man nicht noch befladert wird, jetzt, wo man so eng zusammensteht, dass man sich kaum rühren kann. Flegelhaft stehen die Fahrgäste oft auch bei den Türen, gewaltsam muss man sich durchquetschen, weil der Herr gerade wieder in sein Smartphone schaut statt die Menschen zu bemerken, die aussteigen wollen. Draußen boxt man dann auch unfreiwillig den ein oder anderen zu Seite, wieder Geschubse, und an den Rolltreppen der ständige Kampf von den überhasteten Nachzüglern, die zu den piepsenden U-Bahn-Türen rennen, und nicht durchkommen durch die Menschentraube, die sich zu der Treppe hinbewegt, wie eine undurchlässige Mauer, die niemanden durchlässt. Olfaktorische Übelkeiten gesellen sich hinzu, in Gestalt von Erbrochenem, weggeworfenem Kebap, nach Öl und Geschmacksverstärker stinkenden Nudeln, Schweißgeruch, Energy drinks, das ganze Programm eben.
Ich frage mich, wie ich das früher ausgehalten habe. Dabei liegt die Antwort auf der Hand. Früher war es nicht so schlimm. Früher gab es keine Smartphones, keinen Hang zur ständigen Ablenkung durch die Technik. Das ist so sicherlich falsch, denn auch damals gab es Gameboys und tragbare Kassettenrekorder. Dennoch herrschte Ruhe. Ich erinnere mich daran, wie ich die ersten Jahre meines Studiums über weite Strecken innerhalb Deutschlands und später zwischen Österreich und Deutschland pendelte, auch innerhalb Österreichs. Ruhige 6er-Abteile, und das Beste war: Es ergaben sich spontane Gespräche. Einmal unterhielt ich mich fast fünf Stunden mit einer Wiener Medizinstudentin auf der Fahrt von Innsbruck nach Wien. Heute traut man sich nicht mehr, jemanden anzusprechen, geschweige denn dabei zu unterbrechen, wenn der Ipod läuft, oder der Facebookchat im Dauerbelagerungszustand ist. Spontane Bekanntschaften ergeben sich seltener, spontane Blickkontakte, auf sich aufmerksam werden. Dass diese Art und Weise, jemanden kennenzulernen, ein paar Jahrzehnte früher offenbar noch Usus war, zeigt der Erstling von Sten Nadolny, Netzkarte, dessen Protagonist bei seinen Fahrten quer durch Deutschland so allerhand Bekannschaft machte, wenn auch mit ungewohnt direkten Anreden wie „Sie sind sehr schön. Ich möchte gerne mit ihnen sprechen.“ Früher genoss ich auch die Fahrt, das stundenlange Unkommunikative-aus-dem-Fenster-starren, ohne dabei akustisch unterbrochen zu werden. Das ist heute alles nicht mehr möglich. Einen Einzelplatz reservieren undenkbar, denn vor, hinter, neben mir könnte eine Quasselstrippe sitzen, oder ein Mann, der unbedingt seine Businesstelefonate in der zweiten Klasse erledigen muss. Oder ein zu laut eingestellter Ipod. Widerspruch nicht einzulegen ist auch en vogue. Wer traut sich zu widersprechen? Die wenigsten. Ich mich ohnehin nicht.
Ist man erstmal in diesem Reizüberflutungsteufelskreislauf gefangen, werden auch Geräusche, die sonst tolerierbar wären, ins Unerträgliche erhöht: Motorsägen, und wenn es nur fünf Minuten sind, Nachbar’s sonntägliche Staubsaugtiraden samt Möbelverrückenaktion, die Müllabfuhr, Menschen, die sich laut auf der Straße unterhalten, Kindergeschrei, der Harleydavidsonfahrer, der jeden Abend zur späten Stunde mit lautem Brumm in die Garage fährt, Motorradfahrer, die sich Rennen um die Wohnblocks liefern, Autofahrer, die kreischend starten und bremsen, mitten in der Nacht hupen, bellende Hunde, die nicht aufhören können.
Reizüberflutung bis hin zum Overload ist nur ein Teil der Einflüsse des Umfelds, die etwas verstärken, was sonst aushaltbar wäre. Das lange Zeit sogar aushaltbar war, aber der Unmut zur Langeweile, das nicht Ertragen können von Stille, das Beiseiteschieben von Tagträumen, die die Kreativität sonst Purzelbäume schlagen ließen, haben zugenommen. Nicht ich habe mich verändert, sondern der Sein-Zustand. Ich bin darin nur älter geworden.
Wahnsinn 😀 endlich mal jemand der genau das selbe fühlt wie ich. Macht es dich auch so wütend, das jeder nur noch macht, wozu er Bock hat. Rücksicht und Verständnis sind Fehlanzeige. Wenn man was sagt, bekommt man nur einen blöden Spruch. Hilfe, ich will wieder in die 80’er