Sich selbst akzeptieren lernen

Temple Grandin schreibt in ihrem Buch „The autistic brain“ auf Seite 38:

Personally, I like knowing that my high level of anxiety might be related to having an enlarged amygdala. That knowledge is important to me. It helps me keep the anxiety in perspective. I can remind myself that the problem isn’t out there – the students in the parking lot under my bedroom window. The problem is in here – the way I’m wired. I can medicate for the anxiety somewhat, but I can’t make it go away. So as long as I have to live with it, I can at least do so secure in the knowledge that the threat is not real. The feeling of the threat is real – and that’s a huge difference.

Übersetzung:

Persönlich schätze ich das Wissen, dass mein hoher Grad an Ängstlichkeit mit meiner vergrößerten Amygdala zu tun haben könnte. Das Wissen ist für mich wichtig. Es hilft mir dabei, die Ängstlichkeit nüchtern zu betrachten. Ich kann mich daran erinnern, dass das Problem nicht da draußen liegt – die [sich unterhaltenden ] Schüler auf dem Parkplatz unter meinem Schlafzimmer. Das Problem ist hier drinnen –  die Art, wie ich verkabelt bin. Ich kann die Beklemmung medizinisch etwas behandeln, aber ich kann sie nicht verschwinden lassen. Solange ich damit leben muss, kann ich das zumindest in der Sicherheit tun, dass die Bedrohung nicht real ist. Das Gefühl der Bedrohung ist real – und das ist ein großer Unterschied.

Genauso geht es mir mit Erkenntnissen über 47,XXY auch:

Einerseits sind es natürlich die körperlichen Unterschiede, die durch den relativ niedrigeren Testosteronspiegel seit der Kindheit zustandekommen, bzw. durch die veränderten Gonadotropine (FSH und LH), welche etwa bewirken, dass ich viel stärker schwitze als andere Menschen. Früher hat mir das wirklich zugesetzt und ich schob alles auf Stress, aber ich schwitze auch stark, wenn ich keinen Stress habe. Testosteronmangel erklärt (noch) die Schüchternheit, Passivität, Ängstlichkeit, wobei ich gespannt bin, ob die seit Mai laufende Testosterontherapie an diesen Eigenschaften etwas ändert.

Andererseits gibt es aus dem Bereich der Gehirnforschung auch fundiertere Kenntnisse, etwa, dass 47,XXY mit kleinerer Amygdala, Frontallappen und Cerebellum verbunden sind, dass ich dadurch vermutlich empfindlicher/empathischer reagiere, aber auch Schwierigkeiten mit zielgerichtetem Planen habe, dass ich erst relativ spät (im Alter von neun Jahren) Fahrrad lernte, weil das Cerebellum, das für motorische Fähigkeiten zuständig ist, zwischenreinfunkte. Körperwahrnehmung, Balance, vielleicht hängt auch die Höhenangst damit zusammen. Denn mit schlechter Körperbalance fürchtet man sich naturgemäß auch mehr vor einem Abgrund.

Psychische XXY-Symptome bilde ich mir nicht nur ein, sie sind durch die Unterschiede in meinem Gehirn nachprüfbar. Wie gerne würde ich das machen lassen, aber leider sind die meisten Forschungsstudien derzeit an Kinder und Jugendliche addressiert. Klar, weil das das Alter ist, in dem sich die meisten Veränderungen vollziehen, aber man auch noch eingreifen kann. Sind Erwachsene deswegen hoffnungslos, sind die Gehirnveränderungen schon so weit fortgeschritten, dass man da rückwirkend nichts mehr machen kann? Ich weiß nicht, ich möchte es nicht glauben. Denn das würde bedeuten, ich würde die Diagnose XXY als unveränderlich im Gehirn hinnehmen. Manche Folgen lassen sich nicht ändern, durch die „Andersverkabelung“, d.h. die Geräuschempfindlichkeit bleibt, aber zielgerichtete Handlungen, wie Vorausplanen und ein geregelter Tagesablauf, das lässt sich von außen beeinflussen. Da muss ich nicht die Flinte ins Korn werfen und sagen „ich bin XXY, das bleibt so lebenslang“.

Mit plötzlichen Veränderungen leben lernen, daran arbeite ich derzeit. Ich ruhe mich auf XXY nicht aus, aber es gibt mir Sicherheit zu wissen, dass die vermutlich vorhandenen Abweichungen in den Gehirnfunktionen mir größeren Übungsaufwand abverlangen als Menschen, die durch 0815-Ratschläge und Küchenpsychologie alias „Nun reiß dich mal zusammen!“-Aufforderungen funktionieren können.

XXY bietet Erklärungen im Krankheitssinne, aber auch für die Stärken. In der amerikanischen Übersichtsbroschüre über XXY steht etwa (übersetzt) geschrieben:

Forschungen am Nationalen Gesundheitsinstitut (NIH) durch Dr. Jay Giedd, einem
Kinderpsychiater, der eine Langzeitstudie mit über 40 XXY-Kindern durchführt, zeigen, dass das Volumen der grauen Materie auf der rechten Seite des Gehirns, dem Teil des Gehirns, der räumliche und rechnerische Fähigkeiten kontrolliert, tatsächlich größer ist als für Kontrollteilnehmer. XXYs nutzen diese Stärke mitunter, um das geringfügig kleinere Volumen der linken Gehirnhälfte zu kompensieren, die Sprachfunktionen und soziale Fertigkeiten kontrolliert, und Defizite in diesen Regionen erklären kann.

Plötzlich wird mir klar, warum ich zwar mündliche Schwächen aufweise, aber mich schriftlich umso besser ausdrücken kann. Ich habe schon immer viel gelesen und geschrieben, als Kind, als Jugendlicher, im Studium und nach der Studienzeit. Im Hyperfokus, man sagt auch flow dazu, herrscht volle Konzentration, dann bringe ich viel zustande, etwa im naturwissenschaftlichen Bereich unzählige Fallstudien und wissenschaftliche Erklärungen, wo mich viele fragten, wann ich denn die Zeit dafür nehme. Durch die Hypersensorik entwickelte ich ein nahezu absolutes Gehör in der Zeit, als ich jahrelang Gitarrenunterricht hatte und meine Gitarre ohne Hilfsmittel stimmen konnte. Ich sang auch ein paar Jahre im Schulchor mit und wurde für meine Stimmqualitäten gelobt. Weitere Stärken sind das fotografische Gedächtnis und der Blick für Details. Wenn es ein Symptom vom Klinefelter-Syndrom gibt, das definitiv nicht auf mich zutrifft, dann ist das Legasthenie. Ich erinnere mich an die Zeit in der Grundschule, als ich in allen Diktaten Null Fehler hatte. Diese Fehlerlosigkeit hat sich bewahrt und systematische Fehler passieren mir so gut wie nie. Fehler entdecke ich dafür recht schnell – außer in eigenen Texten, aber das ist ein Phänomen, das auch bei anderen bekannt ist. Man erwartet eben eine richtige Schreibweise und alle Wörter, und überliest Fehler und fehlende oder überschüssige Wörter.

Temple Grandins Textpassage stach mir auch deshalb ins Auge, weil es mir ähnlich geht. Eine Ruhestörung kann ich nicht ignorieren. Sie nimmt mich solange ein, solange sie andauert, manchmal noch darüber hinaus. Oft hört man dann …

„Mann, bist du spießig“
„Nimm doch Ohrnstöpsel!“
„Du bist aber sehr empfindlich, nimm’s doch mal locker!“
„Sei doch nicht so empfindlich!“

Ja, ich wäre gerne weniger empfindlich, aber das ist keine Kopfsache – in gewisser Weise schon, aber keine mentale Kopfsache, wie es vielleicht bei echten Spießern der Fall ist, sondern eine neurologische Kopfsache durch die erhöhte Detailwahrnehmung, die beim Fotografieren und Wandern Vorteile bringt, bei der Notwendigkeit, sich zu konzentrieren aber gravierende Nachteile hat.

Gerne würde ich das mündlich so erklären können wie ich das schriftlich hier niedergeschrieben habe, und dabei ernstgenommen werden. Leider passen Tonlage, Mimik & Gestik oft nicht zu meinen Empfindungen und Absichten. Missverständnisse sind die Folge, im schlimmsten Fall glaubt man, ich mache dem Gegenüber nur etwas vor.

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