Vitsootsak et al., Timing of Diagnosis of 47,XXY and 48,XXYY: A Survey of Parent Experiences,
Am J Med Genet A. Feb 2013; 161(2): 268–272 – Volltext online
Einleitung:
Die Mehrheit der XXY-Männer wird nie diagnostiziert. In einer Studie aus Großbritannien werden 10 % der Fälle vor der Geburt und 26 % nach der Geburt diagnostiziert, vorwiegend durch Merkmale wie Entwicklungsverzögerung, Verhaltensprobleme, Hypogonadismus, Gynäkomastie oder Unfruchtbarkeit. Die verbleibenden 64 % werden nie diagnostiziert. Von jenen, die nach der Geburt diagnostiziert wurden, erhalten nur 28 % die Diagnose im Kinder- oder Jugendalter, der Rest erst im Erwachsenenalter, vorwiegend wegen Testosteronmangel oder Unfruchtbarkeit. Eine vergleichbare Studie aus Dänemark zeigt sogar 75 % nicht diagnostizierter XXY-Männer und weniger als 10 %, die vor der Pubertät erkannt werden. In den USA wurden solche Studien noch nicht durchgeführt, aber man schätzt, dass rund 285 000 Amerikaner 47,XXY sind.
Methoden und Ergebnisse:
Die Eltern von 89 XXY-Individuen wurden befragt, 51 % davon wurden vor der Geburt diagnostiziert. Das Durchschnittsalter der Männer zum Zeitpunkt der Diagnose nach der Geburt betrug 23 Jahre.
Die nach der Geburt diagnostizierte Gruppe wurde in zwei Gruppen aufgeteilt:
1. erste Beunruhigung wegen Entwicklungsverzögerungen, Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten
Die erste Gruppe bestand aus 26 Männern (Durchschnittsalter: 16 Jahre, von 1-55 reichend), erste Anzeichen sahen die Eltern im Alter von 5 (Bandbreite: 2 Monate bis 20 Jahre), das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Diagnose betrug 10 (2 Monate -30 Jahre).
Die Anordnung des Chromosomentests erfolgte in …
- 9 Fällen durch den Kinderarzt
- 6 Fällen durch einen Genetiker
- 3 Fällen durch einen Neurologen
In 7 Fällen waren die Eltern erstmals beunruhigt aufgrund der Entwicklung des Kindes, jedoch wurde die Diagnose nicht festgestellt, bis sich körperliche Merkmale einstellten, erst dann veranlassten Endokrinologen einen Chromosomentest, die Diagnose wurde dann im Alter von 8 Monaten bis 34 Jahren gestellt.
2. erste Beunruhigung wegen hormoneller Auffälligkeiten (unvollständige Pubertät, Gynäkomastie, kleine Hoden)
Die zweite Gruppe bestand aus 18 Männern (Durchschnittsalter: 32, 16-59), mit ersten Bedenken wegen hormonellen Auffälligkeiten im Durchschnittsalter von 19 (3 Monate bis 40 Jahre) und mittlerem Diagnosealter von 21 Jahren (7 Monate bis 40 Jahre).
- 9 Männer wurden durch einen Endokrinologen diagnostiziert
- 4 durch einen Allgemeinmediziner
- 2 durch Genetiker
- 2 durch Urologen
- 1 durch einen Psychologen
Ungefähr 80 % der Eltern berichteten, dass sie nichts von der fehlenden Pubertät oder kleinen Hoden gewusst haben und Routineuntersuchungen zum Gentest auf 47,XXY geführt haben.
Diskussion:
Mangels auffälliger körperlicher Merkmale bei der Geburt erregen XXY-Kinder wenig Verdacht auf eine genetische Störung bei Kinderärzten. Diagnosen werden erst dann in Betracht gezogen, wenn es zu 1) Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten wie Sprachverzögerung, Verhaltensproblemen, Lernbehinderungen kommt oder 2) zu hormonellen Störungen, die mit Hypogonadismus in Zusammenhang stehen, wie kleine Hoden, verzögerte Pubertät und Gynäkomastie. Das gleichzeitige Auftreten von großer Statur und langen Gliedmaßen veranlassen gelegentlich den Gentest, aber alleine erregen diese Merkmale kaum einen klinischen Verdacht auf 47,XXY.
Etwa 70-80 % der Kleinkinder mit 47,XXY zeigen Verzögerungen in der Sprache und bei motorischen Meilensteinen, und ungefähr 80 % benötigen spezielle Fördermaßnahmen während der Schulzeit, meist wegen Lesen und sprachbasierten Lernbehinderungen. Die meisten XXY-Betroffenen benötigen den Beginn der Testosteronersatztherapie ab dem mittleren Jugendalter, um die pubertäre Entwicklung zu unterstützen, sowie Muskelstärke, Ausdauer und Knochendichte. Obwohl die meisten XXYs in dieser Zeit körperliche und verhaltensauffällige Merkmale entwickeln, werden sie in dieser Phase nicht erkannt.
Bedenken der Eltern bei Vermutung von Entwicklungsverzögerungen werden oft nicht ernstgenommen
Auffällig in der Befragung der Eltern war, dass vom Zeitpunkt der ersten Beunruhigung durch Entwicklungsverzögerungen bis zur tatsächlichen Diagnose rund 5 Jahre vergingen. Eltern berichteten häufig, dass Allgemeinmedizinern ihnen versicherten, dass ihr Sohn in der Entwicklung noch aufholen würde, oder ihnen wurde geraten, abzuwarten, da Buben sich oft im langsameren Tempo entwickeln. Nachdem rund 80 % der XXYs Entwicklungsverzögerungen und sprachbasierte Lernbeeinträchtigungen zeigt, würde eine frühere Diagnose den Erfolg von frühzeitigen Förderungsmaßnahmen fördern.
Bei manchen Individuen rieten die Allgemeinmediziner zu Sprachtherapien oder andere frühzeitige Interventionen, allerdings berichteten viele Eltern, dass der Allgemeinmediziner (bzw. Hausarzt) anfangs keinen Versuch zu einer medizinischen Diagnose (z.B. Karyotypbestimmung) unternahm oder ihr Kind an einen Spezialisten (z.B. Kinderärzte für Entwicklungsstörungen, Neurologen, Genetiker) weiterverwies. In ungefähr 35 % der diagnostizierten XXY war es der allgemeine Kinderarzt, der den Chromosomentest veranlasste, die verbleibenden 65 % wurden durch Spezialisten diagnostiziert.
Raschere Diagnose, wenn hormonelle Auffälligkeiten bekannt werden
Im Fall hormoneller Auffälligkeiten wurde die Diagnose bereits rund 2 Jahre nach den ersten Anzeichen gestellt. Obwohl das eine kürzere Verzögerung als 5 Jahre sind, ist es immer noch ein großer Zeitraum, der tatenlos verstreicht, wenn man bedenkt, dass die Betroffenen wahrscheinlich unter Testosteronmangel leiden und entsprechende Ersatztherapie benötigen. Testosteronmangel kann neben Hodenunterentwicklung zu vergrößerter Brustentwicklung und verringerter Stärke/Ausdauer bei Jugendlichen führen, und auch zu weiteren medizinischen Problemen beitragen, z.B. Osteoporose und sexuelle Unterfunktion im Erwachsneenalter. Weitere Studien zeigen, dass Testosterontherapie für das Selbstwertgefühl und generelles Wohlbefinden hilfreich sein kann (Bezug auf Nielsen et al., 1988, Langzeitstudie mit 30 XXY-Männern). Die frühzeitige Erkennung von 47,XXY würde ermöglichen, den Fortschritt der Pubertät zu überwachen und frühzeitiger mit der Testosterontherapie zu beginnen.
Die Autoren empfehlen Allgemeinmedizinern bzw. Kinderärzten bei Auftreten von Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten einen Gentest zu veranlassen.