Der Arzt sagt: Sagen Sie das bloß keinem, sonst verlieren Sie Ihren Job!
Die humangenetische Beratung sagt zu Eltern: Sagen Sie das keinem, Ihr Kind könnte als intersexuell stigmatisiert werden.
Der DKSV sagt ebenfalls: Behalt das für Dich, in der Öffentlichkeit könnte man als intersexuell gelten und stigmatisiert werden.
Ja, warum darf man nicht darüber reden? Richtig, weil Vorurteile existieren…. Vorurteile wie….
unter Ärzten; wenn man auf Ärzte trifft und das Klinefelter-Syndrom erwähnt, und sie sagen „Sind das nicht die mit den dicken Hälsen, die geistig behindert sind?“ Passiert leider immer noch. Oder wenn der Frauenarzt sagt: „Treiben Sie das Kind ab, unsere Gesellschaft möchte nur gesunde Kinder.“
unter 99 % der Allgemeinbevölkerung, die von Klinefelter nie etwas gehört hat, die maximal im Biologieunterricht davon gehört hat, wo natürlich ausschließlich Unfruchtbarkeit und Testosteronmangel thematisiert werden. Im Medizinstudium dürfte es großteils ähnlich sein und seltene Krankheitsbilder werden höchstens am Rande gestreift, wenngleich Klinefelter nur als selten gilt, weil die Dunkelziffer so groß ist. Hätte man 70 oder 80 % diagnostizierte Menschen, gäbe es vielleicht mehr Forschungsinteresse.
Bei meiner damaligen genetischen Beratung wurde mit keinem Wort auf psychische Auswirkungen eingegangen, auch der DKSV weist tendenziell Aussagen, die über testosteronmangelbedingte Schüchternheit, Passivität und Sensibilität hinausgehen, weit von sich, das habe nichts mit KS zu tun. Auch auf österreichischer Seite wird ein Zusammenhang mit Reizsensibilität abgestritten, während bei der AXYS, der amerikanischen Vereinigung für X- und Y-Chromosomenstörungen, bereits ausführliche Vorträge darüber gehalten werden.
Wie ein kleiner Bub, dessen Hormonwerte zwischen der Minipubertät und der späteren Pubertät quasi im kaum messbaren Bereich angesiedelt sind, einen Testosteronmangel aufweisen kann, kann bisher niemand erklären. Und wenn tatsächlich, was bisher nicht bewiesen wurde, jedenfalls nicht bei allen XXY, vor der Geburt bzw. bei Neugeborenen ein Testosteronmangel vorliegt, hat er gerade in diesem Stadium wesentliche Einflüsse auf die Entwicklung des Gehirns, und kann spezifische Gehirnregionen so verändern, dass – wie in Studien herausgefunden wurde – gewisse Ähnlichkeiten mit ADHS-Gehirnen bestehen, bzw. auch mit anderen Krankheitsbildern. Und diese bereits vorgeburtliche Gehirnentwicklung lässt sich durch Testosterongabe nicht einfach so rückgängig machen, bzw. nur in manchen Bereichen und auch nicht bei allen.
Ich denke, die Entstigmatisierung muss schrittweise erfolgen.
Schritt 1: Öffnung gegenüber allen XXY-Menschen, auch jenen, die nicht in die Schablone des Klinefelter-Prototyps passen, also auch jenen, die psychiatrisch diagnostiziert wurden, und jenen, die sich als intersexuell definieren. Ein offener Austausch untereinander ist die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen nicht mehr unter ihresgleichen ausgegrenzt fühlen, was quasi eine doppelte Strafe ist, wenn man schon mit der Allgemeinbevölkerung kämpfen muss.
Schritt 2: Anerkennung, dass das zweite X-Chromosom sehr wohl Auswirkungen haben kann, weil der Testosteronmangel erst durch das zweite X entsteht. Eine offene Diskussion über die Ursachen muss möglich sein, bestenfalls im Austausch mit anderen Organisationen, z.B. AXYS oder klinefelter.nl, die darüber schon deutlich mehr Informationen zusammengetragen haben.
Schritt 3: Anerkennung, dass Depressionen bei XXY-Männern nicht nur testosteronmangelbedingt sind bzw. auf der Unfruchtbarkeit beruhen, sondern auch mit der Andersartigkeit zusammenhängen können.
Schritt 4: Aufklärung über Intersexualität. Es gibt verschiedene Definitionen von Intersexualität, nicht jeder ist ein Zwitterwesen. Wenn nicht mehr XXY-Männer intersexuell sind als in der Gesamtbevölkerung, gibt es auch keinen Grund, Teilnahmen wie an der DSD-Life-Studie zu verweigern. Selbst wenn sich Intersexualität herausstellt, bedeutet das noch lange nicht, dass man Intersexuelle meiden muss und nicht mit ihnen reden kann.
Schritt 5: Aufklärung über Menschen mit veränderter Wahrnehmung (um es neutral zu formulieren und nicht nur pathologisch), das betrifft Autismus, ADS/ADHS und Schizophrenie. Unter diesen Identitäten verbergen sich oftmals kreative Menschen, die genauso Stärken und Schwächen haben wie andere auch. Schlagworte wie Modediagnose und Impfschäden sind unseriös und unterstellen, dass es sich um eine Krankheit handelt, nicht um veränderte Wahrnehmung. Schwächen, gesundheitliche Folgen, kann man behandeln, therapieren oder einfach mit ihnen leben lernen, aber Stärken muss man fördern, sie bedürfen keiner Heilung. Sie gehören zur Identität hinzu, bei uns: zum Chromosomensatz XXY.
Schritt 6: Offener Umgang dann, wenn man durch seine Veranlagung Einschränkungen hat. Wer sich nicht beeinträchtigt fühlt, hat auch keinen Grund, darüber zu reden. Aber wer einen erhöhten Leidensdruck verspürt und sich nicht verstanden fühlt, sollte sich bei Selbsthilfegruppen aufgehoben und nicht weggestoßen fühlen. Er sollte frei darüber reden können statt zensiert zu werden und er sollte Fragen stellen können, ohne gleich abgewatscht zu werden „das habe nichts mit KS zu tun“.
Die selbst ernannten Wächter der Wahrheit verschließen sich leider Erkenntnissen in nichtdeutscher Sprache, und diese Erkenntnisse kann man nicht mal mit dem Argument, in den USA seien alle Studien durch Pharmakonzerne verfälscht, abtun. Es genügt bereits, hier auf Rohdaten zu schauen, nicht nur auf Schlussfolgerungen. Zudem ein Großteil meiner benutzten Literatur auf dem Blog gar nicht aus den USA stammt, sondern aus den Niederlanden, Dänemark oder Schweden. Es ist – auch im Hinblick auf die Diagnoseinflation in den USA (dazu in einem separaten Blogeintrag mehr) – gar nicht die Frage, ob man unbedingt eine ADHS- oder Autismus-Diagnose stellen muss, wenn nicht alle Symptome dafür vorliegen. Aber die vorhandenen Symptome lassen sich durchaus – nur im schwerwiegenden Fall medikamentös – entsprechend therapieren, wenn man sich anschaut, welche Strategien bei ADHS oder Autismus verfolgt werden.
Einfache Beispiele:
1. Das Kind hat mit Reizüberflutung zu kämpfen. XXY-Kinder bräuchen häufiger mehr Zeit, verbale Informationen zu verarbeiten. Neben kognitiven Fähigkeiten kann es auch Ablenkung durch äußere Reize sein. Auch das Kurzzeitgedächtnis spielt hier eine Rolle. Therapieansatz: Mehr Zeit geben, es nicht drängen, Achtsamkeitsübungen, um sich konzentrieren zu können, verbale Informationen nicht in reizüberladenen Situationen mitteilen (z.B. wenn der Fernseher oder das Radio im Hintergrund läuft).
2. Das Kind hat Schwierigkeiten, Aufgaben rechtzeitig zu erledigen. Therapieansatz: Statt To-Do-Listen Wenn-Dann-Listen benutzen. Wenn ich das Zimmer aufgeräumt habe, kann ich spielen gehen. Wenn ich Hausaufgaben erledigt habe, kann ich Besuch empfangen, usw.
Solche gezielten Therapieversuche gehen auch ohne Diagnose, es ist aber derzeit immer noch so, dass man eine zusätzliche Diagnose braucht, weil …
- das Klinefelter-Syndrom, wie es derzeit bei Ärzten und in Selbsthilfevereinen definiert wird, nicht alle beobachteten Verhaltensweisen abdeckt.
- weil das Umfeld mit dem Coming Out Klinefelter-Syndrom nichts anzufangen weiß, ggf. denkt, mit Testosteronmangel sei der Fall erledigt, das Problem liegt alleine bei ihm und man selbst müsse sich nicht anders verhalten (z.B. klare Anweisungen, schriftliche statt mündliche Informationen, auf Reizüberflutung Rücksicht nehmen)
- weil man erst mit einer zusätzlichen Diagnose dem sonderbaren Verhalten einen Namen geben kann
Nun ist aber das Problem, siehe Schritt 5, dass auch über diese zusätzliche Diagnosen eine Menge Vorurteile grassieren. Ich kenne viele diagnostizierte Menschen und bin inzwischen weit davon entfernt, in Stereotypen zu denken. Nur kann man das nicht von der Mehrheit des Alltagsumfelds erwarten, man kann aber anhand der richtigen Links und ausgewogener Artikel darauf hinstoßen, dass viele Klischées nicht stimmen und nicht immer der schwerwiegendste Verlauf angenommen werden muss. Viele Blogger im Blogroll (rechts neben dem Artikel) klären auf, viel besser als es Wikipedia oder ein Fachbuch können. Am Ende ist der Betroffene selbst der beste Ansprechpartner, was die Diagnose für IHN bedeutet: Denn Individualität fällt leider ebenso oft unter den Tisch.
Das stimmt nicht: „Der DKSV sagt ebenfalls: Behalt das für Dich, in der Öffentlichkeit könnte man als intersexuell gelten und stigmatisiert werden.“
Die Deutsche Klinefelter-Syndrom Vereinigung e.V. setzt sich aktiv dafür ein, dass über das Klinefelter-Syndrom offen gesprochen wird um eben gerade nicht im Verborgenen zu handeln.
Das widerspricht aber der Stellungnahme des DKSV zur Verweigerung der DSD-Life Studie, deren Ergebnisse vielen Betroffenen weiterhelfen könnte:
Klicke, um auf Stellungnahme_Klinefelter_Syndrom_Vereinigung_europ%C3%A4ischen_Studie_dsd_LIFE_01.pdf zuzugreifen
Es darf eben nicht offen darüber gesprochen werden, das diskriminiert jene XXY-Menschen, die intersexuell sind bzw. sich nicht mit der männlichen Genderidentität identifizieren. Um das „Stigma“ Intersexualität zu ändern, würde helfen, sachlich und objektiv über Intersexualität aufzuklären. Da helfen schwarz-weiß-Aussagen weder in die eine (XXY = intersexuell) noch in die andere (XXY ist nie und nimmer intersexuell) Richtung, besonders nicht jenen, die keine Testosterontherapie brauchen oder wollen, sondern eher eine Östrogentherapie oder gar nichts nehmen wollen.