Smalltalk-Abneigung: Ursache und Wirkung?

Beim Schneespaziergang habe ich heute über eines der Symptome von Autismus nachgedacht: die Unfähigkeit zum Smalltalk, und woran das liegt. Die einfachste und am wenigsten überzeugende Begründung wäre: Ich kann kein Smalltalk, weil ich Autist bin. Aber das erklärt in meinen Augen gar nichts.

Smalltalk machen viele Menschen intuitiv, wenn sie aufeinandertreffen. Es bricht das Eis, man wird gegenseitig warm miteinander, ehe man zu den tiefschürfenden Gesprächsinhalten findet – je nach Anlass und Anzahl der Gesprächspartner passiert das mitunter nie. Smalltalkthemen sind meistens das Wetter, der Verkehr, der Weg zur Arbeit (etwa im Stau stehen oder ungustiöse Begegnungen in der Straßenbahn) oder Familie, Haus, Garten, der vergangene oder anstehende Urlaub.

Floskeln oder ernsthaftes Interesse?

Nichtautistische Menschen sind manchmal schwer zu durchschauen. Stellen sie die Fragen nach dem Gemütszustand („wie geht es Dir?“) mit ernsthaftem Interesse oder steckt dahinter bloß die allgemeine Höflichkeitsfloskel, denn meist leitet ein schlichtes „Gut, danke.“ zur nächsten Frage über, außer man setzt ein „Und Dir?“ hinzu, meist ebenso als Floskel gemeint. Spätestens dann, wenn man ehrlich antwortet, ist diese Frage beantwortet. Auf negative Rückmeldungen folgt nämlich häufig betretenes Schweigen oder ein „Morgen sieht es wieder anders aus.“

Sind einem diese Floskeln nicht geläufig, wird es schwierig mit dem Gesprächseinstieg. Ich neige zum Entweder-Oder-Denken. Entweder wir bereden unseren Gemütszustand offen und ehrlich oder wir lassen es ganz bleiben. Denn meist erzeugt die Gemütszustandsfrage ein schlechtes Gefühl, wenn man nicht mit „Gut!“ antworten kann oder zwar mit „Gut!“ antwortet, aber sich als Lügner fühlt, und gerne mehr darüber reden würde, aber spürt, dass dies das Gegenüber nicht interessiert.

Alltagsthema oder Spezialinteresse?

Floskeln kann man lernen, aber wie ist das mit den anderen Alltagsthemen? Auch Nichtautisten sind bisweilen nicht an Smalltalkthemen interessiert, aber wie sehr hängt dies allgemein von den Interessen der Person selbst ab? Autisten betreiben Hobbys manchmal so exzessiv, dass man es als ihr Spezialinteresse bezeichnet. Das können Teilbereiche eines Themas sein oder sich einem Thema über viele Jahre sehr intensiv zuwenden.  Ein Beispiel: Ein Nichtautist ist Wissenschaftler, Atomphysiker. Alleinstehend, sieht seine Lebenserfüllung im Beruf, und beschäftigt sich die meiste Zeit seines Lebens damit. Smalltalk über Familie, Haus & Garten wird ihn vermutlich weniger interessieren, geht es aber um Kernkraft, neue wissenschaftliche Entdeckungen oder der Störfall im nahegelegenen AKW, blüht er vermutlich auf und kann sehr ausschweifend darüber monologisieren. Manchmal treffen Spezialinteressen aber auch Smalltalkthemen. Ich bin zum Beispiel Wettervorhersager – als solcher ist Wetter für mich kein Smalltalkthema, sondern ich kann auf Fragen zu den Wetteraussichten recht ausschweifend antworten, wenn ich die Muße dazu habe. Ebenso kann ich in den Himmel deuten und Wolkenarten erklären, ob es den Gesprächspartner interessiert oder nicht. Andere haben ihre Interessen im Garteln oder für Automarken, auch sie können sich ausschweifend darüber unterhalten. Wieder andere haben Kinder und sind daher interessiert, wie das andere Paar mit dem Kind aufwächst. Entspricht also ein Alltagsthema dem Spezialinteresse, können sich die Menschen intensiv darüber unterhalten, ob Autist oder nicht.

Was Autisten manchmal weniger bewusst ist, dass dieses Fragen nach Familie, Haus, Garten, Urlaub, etc…, zum „Socialising“ dazugehören, dass es auffällt, wenn man auf Fragen zwar antwortet, aber keine Gegenfragen stellt. Andererseits muss es auch Menschen geben dürfen, die diesen Subtext überspringen und gleich zum Kern der Sache vordringen.

Mein Résumée:

Gemeinsame Interessen sind Gesprächsstoff – das ist völlig unabhängig von Diagnosen. Unterschiedliche Interessen und Icebreaker zum Einstieg in ein Gespräch sind nicht für jedermann der Anlass, sich in Floskeln zu ergehen – auch das betrifft Autisten und Nichtautisten. Bloß ist es Autisten manchmal nicht bewusst, dass Nichtautisten dieses Vorglühen vor dem eigentlichen Kennenlernen oder Einsteigen in die tiefgehende Materie brauchen.

Ebenso tun sich Autisten damit schwer, dem Gesprächspartner in die Augen zu schauen bzw. längere Zeit Blickkontakt zu halten, ohne den Faden am Gespräch zu verlieren. Damit entgeht ihnen der Gemütszustand des Gesprächspartners, der zwar durch Floskeln Interesse vortäuscht, möglicherweise aber gerade ganz weit weg ist und nicht an einer negativen Antwort interessiert ist.

In Summe greift jedenfalls das Argument „Ich interessiere mich nun mal nicht für XY“ zu kurz, denn das betrifft genauso Nichtautisten. Der Unterschied liegt vielmehr darin, die Wichtigkeit dieser banalen Gespräche zu unterschätzen, die jedoch intuitiv erfolgen, für die ein Nichtautist nicht lange nachdenken muss, was er den anderen fragen oder was er dem anderen erzählen möchte. Wenn man sich hingegen immer in einem Umfeld aufhält, wo man gemeinsamen (Spezial-) Interessen frönen kann, etwa auf der Universität oder allgemein im wissenschaftlichen Bereich, dann treten Smalltalkthemen generell in den Hintergrund und es finden die tiefschürfenden Gespräche statt, die man sich insgeheim gewünscht hat. Egal, ob Autist oder Nichtautist.

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