Van Rijn 2014: Empathie und Frustrationsgrad bei XXY

Der Titel des Fachartikels lautet:

Van Rijn et al, 2014 Social attentation, Affective Arousal and Empathy in Men with Klinefelter Syndrome (47,XXY): Evidence from Eyetracking and Skin conductance, PLoS One, 2014, 9 (1): e84721 (Volltext)

Auf dem X-Chromosom ist eine außergewöhnlich hohe Dichte an Genen vorhanden, die für die neuronale Entwicklung wesentlich sind.

Bei XXY hat man soziale Schwierigkeiten inkl. Verhalten festgestellt, u.a.

  • Schüchternheit
  • soziale Zurückgezogenheit
  • Soziophobie
  • Schwierigkeiten in der Beziehung zu Gleichaltrigen
  • impulsives Verhalten
  • Kommunikationsschwierigkeiten
  • unterdrückte Fähigkeiten zur Anpassung
  • verringertes Durchsetzungsvermögen gegenüber anderen

Traditional hat man gelaubt, Sprachdefizite führen zu Problemen im Sozialverhalten, aber soziale Wahrnehmungsverarbeitung (social cognitive processing), welche Wahrnehmen, Verstehen und Ausdrücken von sozialen Signalen einschließt, ist unabhängig von Intelligenz, Sprache und Aufmerksamkeit.

Schwierigkeiten treten vor allem auf bei …

  • Identifizierung von Emotionen
  • Gesichtsausdrücke
  • Erkennung von Stimmungszuständen im Tonfall (emotionale Prosodie)
  • Empfindlichkeit, Blickkontakt zu erwidern
  • Abweichungen in der emotionalen Reaktionsfähigkeit
  • leichter emotional aufgebracht als Reaktion auf Emotionen
  • stärkeres Gefühl der Verzweiflung bei der Interaktion, z.B. beim Umgang mit Kritik oder ein Gespräch mit anderen beginnen

Empathie ist die Fähigkeit,

a) vom emotionalen Zustand anderer beeinflusst zu werden und diesen zu teilen
b) sich die Gründe für den Zustand des anderen zu erschließen
c) sich mit dem anderen zu identifizieren und in seine oder ihre Perspektive zu versetzen

Gewöhnlich funktioniert Empathie über Gesicht und Augen, ein Gesicht wird IMMER mit den Augen zuerst gescannt.

Emotion ist ein komplexer psychischer Zustand, der beinhaltet

  • eine physiologische Reaktion
  • subjektive Erfahrung (Gefühl)
  • eine Reaktion im Ausdruck bzw. im Verhalten

Bei Menschen aus dem autistischen Spektrum gibt es erhöhte emotionale Erregung, die sich in einer verstärkten neuronalen Aktivierung der Amygdala widerspiegelt und mit einer Verringerung des Blickkontakts verbunden wird. Dies reguliert die Übererregtheit auf soziale Signale herunter (Quelle: Dalton et al., 2005).

Eine der psychophysiologischen Hinweise auf emotionale Erregtheit ist die Hautleitfähigkeit (skin conductance), die die „fight or flight response“ anhand der Fluktuationen der skin conductance response (SCR) misst. Gewöhnlich gibt es auf emotionale Gesichter/Szenen (Videoclips) einen kurzen Anstieg dieser SCR.

Methode:

Empathie wird durch emotionale Videoclips angeregt.

Teilnehmer: 17 XXY (Durchschnittsalter 37), davon 7 in Testosteronbehandlung (keine Unterschiede in den Ergebnissen).

Ergebnisse:

XXY verwenden – unabhängig von der Testosteronersatztherapie weniger Zeit, auf die Augen zu schauen als die Kontrollgruppe, Gesichtszüge werden geringfügig kürzer fixiert, der Mund und andere Teile des Gesichts dagegen häufiger.

Die Anzahl der SCR ist größer bei Videoclips, die Angst auslösen, gleichzeitig ist die Empathie geringer. Deutlich stärkere Reaktionen gibt es auch bei Traurigkeit/Wut sowie bei Schmerz/Überraschung, ungefähr gleich mit der Kontrollgruppe war die Reaktion bei Fröhlichkeit.

Diskussion:

Es gibt keine Verbindung zum Testosteronmangel bzw. zu verbalen Fähigkeiten, sondern auf die verwendete Zeit, in die Augen zu schauen, was Ähnlichkeiten zum autistischen Spektrum zeigt.

Hypothese:

hypothesis_emotional_regulation_ks_rijn_2014

Schematische Darstellung der fehlgesteuerten Abläufe bei XXY-Betroffenen (Hypothese)

  1. Die Vermeidung von Augenkontakt führt zu Problemen in der Erkennung von Emotionen.
  2. Daraus resultiert ein erhöhtes, emotionales Erregungsniveau.
  3. Der Betroffene versucht dieses durch Aufmerksamkeitsverlagerung (in diesem Fall: Blickkontaktvermeidung) zu erniedrigen.
  4. Er scheitert aber wegen der Schwierigkeit, (besonders negative) Emotionen richtig zu erfassen.
  5. Resultat: Starke Verzweiflung in sozialen Interaktionen

Gemäß dieser Studie ist die Vermeidung von Augenkontakt eine der zentralen Ursachen für Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen.

Haupteinschränkung der Studie ist die geringe Teilnehmerzahl von Betroffenen.

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