Störung der Impulskontrolle – Wenn Kommunikation zu viel wird

Ich verstehe die Absicht von Autisten, sich gegen Spezialinteressen und exzessive Internetkommunikation als Suchtverhalten zu wehren. Das wollte ich auch niemandem unterstellen. Um zu erläutern, wann ich persönlich ein Verhalten als krankhaft empfinde, muss ich etwas weiter in meiner Biographie ausholen. Als ich damals in Verhaltenstherapie ging, hatte ich zufällig einen Spezialisten für Suchtprävention erwischt – nicht Onlinesucht, sondern Drogensucht. Es wird ja in stoffliche (Alkohol, Drogen) und nichtstoffliche (Einkaufen, Wetten, Sport, Internet) Süchte unterschieden. Suchtverhalten entsteht durch einen Verlust der Impulskontrolle, nämlich dann, nicht mehr zu erkennen, wann etwas einem gut tut, und wann man darunter leidet.

Meine Zeit ist zum Glück vorbei, als ich darunter litt, ohne es zu merken. Ich wusste damals weder, dass die genetische Veranlagung 47,XXY eine Störung der Impulskontrolle fördet („exekutive Dysfunktion“) noch dass dies ebenso bei Autismus häufig auftritt. Auch mein damaliger Therapeut wusste das nicht und erkannte in meinem Onlinesucht-Verhalten die Hauptursache für meine Probleme im Alltag. Er versuchte mich dahinzu bewegen, sich stärker im Alltag aufzuhalten, unter Leute zu gehen, damit ich weniger vor dem Netz hing. Das alles klappte höchstens mäßig, weil meine Schwierigkeiten mit verbaler Kommunikation unentdeckt blieben. Ich habe einen kalten Entzug versucht, weil ich dachte, mein Internetverhalten sei die Hauptursache, und vor über zehn Jahren hätte man sich das noch erlauben können, sich vom Netz dauerhaft zu trennen, aber mit zunehmender Popularität des Internet ging es immer schlechter. Ein völliger Rückzug aus dem Netz hätte mich zerstört, weil ich keine Möglichkeit gehabt hätte, mich anderen mitzuteilen. Ebenso hätte ich zahlreiche Spezialinteressen nicht mehr betreiben können. Wetterkarten gibt es nun einmal nur im Netz, ebenso die Communities, und das ganze Wissen auf den Websiten mit dazu.

Deswegen sage ich auch glasklar, dass ein ahnungsloser Therapeut durchaus Schaden anrichten kann, wenn er einen nichtdiagnostizierten Autisten oder XXY zu einem Entzug drängt. Ich bin ihm deswegen heute nicht böse, ich hielt mich ja ohnehin wenig an seine Empfehlungen, als ich merkte, dass ich es nicht umsetzen kann. Suchttherapeuten müssen sich dessen bewusst sein, dass Onlinesuchtverhalten ein Symptom sein kann – so steht es bei Allen Frances „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ geschrieben.

Suchtverhalten unterliegt nach dem ICD-10 einer klaren Definition

  1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, ein Suchtmittel zu konsumieren
  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums des Suchtmittels.
  3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums.
  4. Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Mengen des Suchtmittels erreichten Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Mengen erforderlich.
  5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, psychischer oder sozialer Art).

Quelle: http://www.suchtmr.de/index.php?id=140

Ich verfüge über so viel Selbsterkenntnis, dass ich heute sagen kann, dass alle Punkte erfüllt waren – jetzt außen vor gelassen, warum es dazu kam:

Ich ging in der Anfangszeit höchstens eine Stunde täglich ins Netz, damals gab es nicht mal Flatrates, es wurde sukzessive mehr, bis ich mich schon darauf freute, wieder in meine Studenten-WG zu fahren, weil ich dort schnelles, kostenloses Internet hatte. (Punkt 1 und 4).

Ich war zeitweise bis zu 40 Stunden dauerhaft online, aber ich habe diese Zeit nur selten sinnvoll genutzt, d.h. nicht zur eigenen Weiterbildung oder um eine To-Do-List abzuhaken, sondern um zigtausende Beiträge in Foren und Chats zu schreiben, mich aufzuregen, aufzubrausen, ungehalten zu reagieren, und vor Aufregung schlecht schlafen zu können. (Punkt 2)

Ich war gereizt, innerlich unruhig, neigte zu Wutausbrüchen, und konnte nur unablässig daran denken, wieder online zu sein. Wenn das Internet nur für zwei Minuten ausfiel, musste ich das sofort jedem mitteilen und mich darüber beklagen, was ich jetzt alles nicht mehr machen kann. (Punkt 3)

Ich verpasste im November 2003 das berühmte Polarlicht in Mitteleuropa, weil ich statt wenige Minuten auf den Balkon zu gehen, lieber am Computer saß. Ich verpasste einen Tornado, weil ich nicht rausging aus dem Haus, sondern lieber chattete. Ich sagte ein Abendessen, das für mich arrangiert worden war, ab, weil ich lieber chattete und Beiträge schrieb. Ich las kaum noch Fachbücher oder Artikel, hatte Mühe mich beim Lernen zu konzentrieren, wenn nebenan der PC stand. Ich hab deswegen fast das Studium vergeigt, weil die Balance nicht mehr gestimmt hat. (Punkt 5)

Das exzessive Online sein hatte auch körperliche Folgen: Ich ernährte mich ungesund, denn Fastfood hielt weniger lange vom Internet ab als selbst kochen. Ich bewegte mich viel zu wenig und war dann auf Wandertouren rasch erschöpft und hatte große Mühe, nicht zusammenzubrechen. Als Folgeerscheinung bekam ich häufig Magen-Darm-Probleme und Verstopfungen. Die Hygiene litt, darunter auch die Schlafhygiene. Der Haushalt war ein Saustall. Wichtige Dinge wurde ewig hinausgeschoben, weil ich dazu das Haus bzw. den PC hätte verlassen müssen. (Punkt 6)

Das, was ich hier aufzähle, hat nichts mit Spezialinteressen zu tun, oder damit, das Internet als ein Segen dafür zu empfinden, sich seiner Umwelt mitteilen zu können. Egal ob Autist oder nicht, jeder von uns hat das Bedürfnis nach ausreichend Schlaf, nach gutem Essen, nach körperlicher und seelischer Gesundheit. Der Ansatz, Internet bloß zurückzufahren, auf wichtige Kontakte zu verzichten, sein Spezialinteresse nicht ausleben zu können, ist sicherlich falsch. Meiner Meinung nach ist es wichtig, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Kontrolle, das heißt für mich heute: Auszeiten nehmen. Beim Wandern einen freien Kopf zu bekommen. Nicht ununterbrochen lesen und schreiben, sondern zwischendrin DENKEN, Ideen im Kopf entstehen lassen, auslüften, vergessen. Kontrolle heißt für mich auch, rechtzeitig ein Ende zu finden, rechtzeitig Schlafen zu gehen, wenn man am nächsten Tag etwas vor hat.

Spezialinteressen ausüben ist für mich ein „positives“ Suchtverhalten. Das exzessive Lesen und Schreiben über Klinefelter und Autismus, regaleweise Bücher kaufen und zusammenfassen, das alles tut mir gut, es bildet mich enorm weiter, ich kann anderen damit helfen, ich kann mich selbst besser verstehen. Es hat einen Zweck. Auch, wenn twittern für mich ein schmaler Grat bleibt, habe ich über Twitter mehr echte, aufrichtige Freunde gefunden als in 20 Jahren „real life“ davor. Zudem bin ich deutlich vorurteilsfreier geworden, ich habe zu wesentlich mehr Menschen anderer Herkunft Kontakt als je zu vor, ich kenne andere Berufe von innen, und ebenso hat sich mein Wissen über Gendervielfalt erweitert. Damals fehlte dieser Zweck, ich chattete nur um des Chattens willen, ich schrieb, um Selbstbestätigung zu finden, und war kaum kritikfähig. Damals hat mir mein Verhalten mehr geschadet als es genützt hat. Es tat mir nicht gut.

Und auch für Autisten gilt das. Das schreibt auch Temple Grandin in ihren Büchern. Spezialinteressen gut und schön, aber wenn man es nicht dazu nutzen kann, sich seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dann muss man es zugunsten anderer Interessen zurückfahren. Sonst geht es ohne Unterstützung nicht mehr. Es gibt ja durchaus die Möglichkeit, sein Faible für Computerspiele zum Beruf zu machen, indem man selbst Computerspiele entwickelt oder in einer entsprechenden Firma mitarbeitet. Ich habe mein Hobby Wetter zum Beruf gemacht. Es gibt Autisten mit dem Hobby Psychologie, die das zum Beruf machten. Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt.

Wenn es aber dazu führt, dass der Alltag nicht mehr bewältigbar ist, dann führt kein Weg daran vorbei, dieses Interesse zu kanalisieren, einem Zweck zuzuführen, von dem man selbst profitieren kann. Das gilt gleichermaßen für Autisten und Nichtautisten. Autisten oder generell Menschen mit beeinträchtiger kognitiver Flexibilität (d.h., die sich schwerer damit tun, etwas zu verändern oder neue Dinge auszuprobieren) haben es sicher schwerer, Kontrolle zurückzugewinnen. Vor allem wenn der Kontrollverlust schon lange besteht, ohne dass man die Ursache dafür erkannt hat (spätdiagnostizierte Autisten und XXY).

Ich stehe dazu, dass man auch als Autist an diesen Stellschrauben der Impulskontrolle drehen kann, dass man Autismus nicht als Ausrede benutzt, an Kontrolle zu verlieren, „weil man ja genetisch dazu vorbestimmt ist“, sondern dass man nach Möglichkeiten sucht, alternative Kommunikationsmöglichkeiten wie Internet zu bewahren, und trotzdem alltagstauglich zu bleiben. Ja, das geht oft nur mit Unterstützung, und Begleiterscheinungen wie Angsterkrankungen und Depressionen erleichtern diesen oft lebenslangen Prozess nicht gerade.

Für mich bleibt rückblickend auf meine schwierige Zeit die positive Selbsterkenntnis, dass es mir gelingen kann, an diesen Stellschrauben zu drehen. Dass ich nicht mehr Tage eingeschlossen in der Wohnung verbringe, sondern in die Natur kann zum Wandern. Dass ich aber auch kein schlechtes Gewissen mehr habe, wenn es diese Tage gibt, weil ich durch die Umgebungsreize schneller erschöpft bin als Menschen, die diese Bürde nicht haben. Dass ich dankbar dafür sein kann, dass ich mich durch Blogs und Twitter meinem Umfeld mitteilen kann. Und ebenso kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, diese Möglichkeiten exzessiver zu nutzen als andere.

Ein letztes Wort noch an Psychologen und Therapeuten mit Schwerpunkt Suchtprävention:

Berücksichtigt bitte bei Eurer Arbeit, dass ein Verhalten mit Suchtcharakter ein Symptom sein kann. Für jemanden mit verbalen Kommunikationsschwierigkeiten ist ein kalter Entzug fatal. Punkt 5 und 6 der obigen Liste sind meiner Meinung nach ausschlaggebend, zu handeln, wenn also das Verhalten einem selbst nicht mehr gut tut. Etwas häufiger zu wollen, und sich unruhig zu fühlen, wenn man es nicht hat, ist normal. Wenn ich ein paar Tage keinen Sport betreiben kann, werde ich auch unruhig. Kein Gesundheitsmediziner würde das als negativ empfinden.

Nachtrag, 20.7.15:

Die Reaktionen von so manchen Autisten enttäuschen mich. Ich dachte, dass jene, die so sehr kritisieren, dass man Autisten ihre Diagnose abspricht, nicht anderen Menschen IHRE Erfahrungen absprechen. Genau das wird aber getan, wenn behauptet wird, man „sei Steigbügelhalter für die Therapie einer erfundenen Verhaltensstörung“. Man sollte den Betroffenen ihre Erfahrungen lassen – die Welt ist nicht schwarz-weiß. Mit dieser „Argumentation“ wird man jedenfalls nicht zum Verständnis beitragen, warum Online-Kommunikation für viele Menschen, INKLUSIVE MIR, lebenswichtig ist.