Über das Wesen der Depression und sein Umfeld

In aller Regelmäßigkeit dringt das Tabuthema Depression bis in die Öffentlichkeit vor. Meist aber nicht im Zusammenhang einer fundierten Ursachenforschung und der Umgang mit Betroffenen, sondern entweder durch einen prominenten Suizid oder wie seit einigen Tagen durch einen wahrscheinlich absichtlich verursachten Flugzeugabsturz durch einen Piloten.

Ironischerweise wird erst über Depression gesprochen, wenn die Betroffenen bereits tot sind. Für die zahllosen depressiven Lebenden ist das nur ein schwacher Trost und die zudem häufig unsensible Berichterstattung über Suizide (vgl. diesen Leitfaden zur Berichterstattung) kann im schlimmsten Fall zum Werther-Effekt führen.

Wenn in vielen Medienberichten von Depression die Rede ist, geht es in erster Linie um die wirtschaftlichen Folgen, wie Krankenstände, krank arbeiten, Fehlerhäufigkeit erhöhen, dann wie derzeit um Verknüpfungen mit Tötungsverhalten, ohne die genaueren Hintergründe zu kennen. Aber es geht kaum um die Ursachen von Depressionen, die sehr vielfältiger Natur sein können. Neben psychischen Ursachen können auch körperliche Ursachen (z.B. Hormonschwankungen) oder Medikamenten-Nebenwirkungen dahinterstehen.

Das größte Problem in unserer Region (und wahrscheinlich in vielen anderen Ländern auch) ist, dass es ….

i) zu wenig Therapeuten und Psychiater gibt, vor allem Spezialisten für bestimmte psychiatrische Erscheinungsformen

ii) zu wenig Therapeuten und Psychiater von der Kasse übernommen werden

iii) ein Zuschuss von knapp 22 € bei durchschnittlich 70-100 € Kosten pro Sitzung relativ wenig ist.

und viertens: Es wird zwar recht schnell die Diagnose Depression gestellt und Medikamente gegeben, aber nicht tiefer gegraben.

Bei einem Autisten wirken sich Depressionen häufig anders aus als bei Nichtautisten und entsprechend fruchten die auf neurotypische Menschen spezifizierten Ratschläge dann seltener. Das betrifft auch das soziale Umfeld. Während in rund 80 % der Autismusfälle die genetische Ursache unbekannt ist, gibt es bei den verbleibenden 20 % einen klaren genetischen Hintergrund, wie etwa die X- und Y-Chromosomenabweichungen. Und nicht immer ist jemand mit XXY, XYY, XXX, X0 so eindeutig vom äußeren Erscheinungsbild anders dass man sofort auf diese Ursache kommen würde.

Bei geschätzten 70 % an depressiven XXY-Menschen und der ebenso geschätzten Dunkelziffer von rund 70 % ist meine starke Vermutung, dass sich unter den Nichtdiagnostizierten auch viele depressive Menschen befinden. Männer gehen heutzutage vielleicht eher zum Therapeuten als noch vor 20 oder 30 Jahren, aber vermutlich immer noch viel weniger als Frauen. Und dann passiert es eben, dass zwar eine Depression diagnostiziert wird, eventuell medikamentös behandelt, aber nicht tiefer geschaut, ob auch körperliche Ursachen dahinterstecken können. Ein Chromosomentest könnte Abhilfe schaffen. Gleiches gilt bei den Primärdiagnosen ADHS und Autismus. Das darf zwar – in diesen Fällen – nicht dazu führen, dass man dann nur noch mit Hormonersatztherapie weitermacht, aber es heißt eben auch, dass die Ursache tiefer liegt und die Behandlung eventuell umfassender sein sollte (etwa Vorbeugung von Osteoporose, Herzerkrankungen, generell Ausdauer und Energie). Das trifft sicher nicht nur bei Klinefelter/XXY zu, sondern auch bei anderen Krankheitsbildern.

In meinem Fall ist die Depression ein klares Symptom, und zwar nicht ursächlich durch den Testosteronmangel, sondern durch kommunikative (und exekutive) Schwierigkeiten, die durch die genetische Veranlagung mit dem zweiten X-Chromosom begünstigt wurden.  Das ist nicht unveränderlich, aber es hilft zu erkennen, woher diese Schwierigkeiten kommen und wie man in kleinen Schritten versuchen kann, gegenzusteuern.

Viele Menschen glauben immer noch, dass Depressionen dasselbe wie depressive Verstimmungen sind, eben launische Phasen, die von alleine wieder weggehen, oder wo es ausreicht, unter Leute zu gehen. Zu erkennen, wo die Ursachen liegen, setzt nicht zwangsläufig einen Schalter im Gehirn um, und von heute auf morgen kommuniziert man plötzlich hürdenfrei. Das Umfeld MUSS entgegenkommen, erkennen, dass sich jemand bemüht, und vor allem erkennen, dass Depressionen ernstzunehmen sind und dass bereits der Alltag den Betroffenen viel Kraft kostet. Jede zusätzliche Veränderung, unerwartete Ereignisse oder extremer Stress verschärft die Depression.

Viel zu oft erhöhen gut gemeinte Ratschläge den Erwartungsdruck, und verschärfen das Schuldbewusstsein, weil man nicht einmal *einfache* Ratschläge umsetzen kann, sondern weiter auf der Stelle tritt. Und selbst wenn sich die Bedingungen bessern, legt das keinen Schalter um – das Gehirn reagiert verzögert, und muss sich erst anpassen. Die Skepsis überwiegt – je nach Trauma durchaus berechtigt.

Kritische Phasen in der Depression sind, wenn der Ausgleich nicht mehr da ist. Wenn das, was einen bisher vom Hirnfasching abhielt, nicht mehr hilft, sei es Sport, Wandern, Malen, Fotografieren oder sonstige Freizeitaktivitäten – wenn die mentale Schlaflosigkeit dominiert, die hier Blogger-Kollegin BloosPlanet sehr anschaulich beschrieben hat. Zurück in den Flow kommen, zurück in die Gedankenlosigkeit ermöglicht es dem Geist, die notwendigen Ruhepausen zu finden, statt unablässig nachzudenken und innerliche Dystopien abspielen zu lassen.  Das gelingt aber in einem stressigen und verständnislos reagierendem Umfeld nicht. Depression heißt auch, dass alles langsamer abläuft, während die Welt immer schneller wird. Man agiert nicht mehr, sondern reagiert nur noch, meist zu spät, bis sich ein Aufgabengebirge vor einem auftürmt, das unbewältigbar erscheint. Die eigenen Fortschritte erscheinen einem vernichtend klein, wenn sich neue Probleme auftun, und können rasch wieder in alte Muster zurückwerfen. Das Umfeld muss daher darauf Rücksicht nehmen, dass für den depressiven Menschen die Zeit langsamer abläuft, und nicht mit dem Umgebungstempo übereinstimmt.

Oft reagiert das Umfeld gar nicht oder teilnahmslos. Andeutungen, dass man Hilfe braucht, werden nicht ernstgenommen. Die wenigsten Betroffenen werden so offen sein und sagen „Ich hab Depressionen. Ich brauche Deine Hilfe“, sondern es werden oftmals Andeutungen sein, vielleicht auch zunehmender Sarkasmus, Zurückgezogenheit, Schwarzmalerei, etc…. die häufigste Antwort ist dann „Du musst Deine Einstellung ändern.“ – aber das klappt eben nicht auf Knopfdruck. Manchmal ist das Beklagen gar nicht auf die beklagte Sache gemünzt, sondern Ausdruck einer tiefersitzenden Frustration, so wie bei Leuten, die sich andauernd über das schlechte Wetter beklagen, also über etwas, das gar nicht in ihrer Kontrolle ist. Mit Einstellungssache alleine ist das aber nicht getan. Wenn die Depression durch Kommunikationsschwierigkeiten und andauernde Missverständnisse entsteht, dann stellt sich viel eher die Frage, wie man die Kommunikation zwischen einander verbessern kann. Zur Kommunikation gehören jedoch mindestens zwei. Das ist keine Einbahnstraße und die Bringschuld liegt nicht nur bei dem, der Kommunikationsschwierigkeiten an sich feststellt.

Es mutet seltsam an, dass gerade Autisten, die häufig eher überempathisch bzw. hochsensibel sind, Empathielosigkeit attestiert wird, während es der Mehrheit der neurotypisch denkenden Menschen nicht gelingt, sich in den Zustand eines depressiven Menschen hineinzuversetzen, oder in das eines reizüberfluteten Autisten. Diese Empathie ist aber die Voraussetzung dafür, dem anderen entgegenzukommen, und sei es nur durchs Zuhören und nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, das in einem Zustand größter Verzweiflung oder Reizüberflutung ausgesprochen wird.

Depressive Menschen wollen nicht auf ihre Depression reduziert werden, nicht darauf, was sie alles nicht (mehr) können. Das Wichtigste ist, den kritischen Punkt zu überwinden, der vom ‚In den Flow‘ kommen abhält, der die Gedankenstrudel auflöst, der dazu führt, wieder zu agieren und nicht verspätet zu reagieren. Manchmal kann das eine Bekanntschaft sein, ein Begleiter, ein Erfolgserlebnis oder auch die Wertschätzung dessen, was man ist, was man kann, was man gerne getan hat und gerne tun würde. Es gibt kein Patentrezept gegen Depressionen. Jeder überwindet sie in unterschiedlichem Tempo, und andere leben ihr Leben lang damit. Es gibt die unterschiedlichsten Ursachen und Ausprägungsformen – individuell eben, wie jeder Mensch ist.