Es sind schon gewisse Parallelen feststellbar, wie in Selbsthilfe-Communities mit Kritik und öffentlicher Darstellung der eigenen genetischen/neurologischen Veranlagung umgegangen wird:
1. Darstellung nach außen
Im DSM-IV ist ein Kriterium für die Diagnose des Asperger-Syndroms:
C: Die Störung verursacht eine klinisch signifikante Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen.
Ausnahmslos jeder, der sich dem Diagnose-Prozedere unterwirft, das sich Jahre hinziehen, Angehörige freiwillig oder eher widerwillig einbinden und durchaus kostspielig werden kann, wird eine psychiatrische Diagnose aufgrund von Leidens- oder zumindest Klärungsdruck angehen. Entweder sind es besorgte Eltern, die wissen wollen, warum ihr Kind „anders ist als die anderen“ oder der Betroffene selbst, der merkt, dass „mit ihm was nicht stimmt“, in selteneren Fällen raten Angehörige, Freunde oder Partner zu einer Diagnose. In jedem Fall ist eine psychiatrische Diagnose – bei der die wenigsten wissen, was dabei herauskommen wird – kein modisches Accessoire, das man sich freiwillig umhängt. Von der Stigmatisierung durch die Gesellschaft, die auch 75 Jahre nach der Nazizeit Andersdenkende und Anderseiende nicht respektieren kann, einmal abgesehen, besteht bei einer Diagnose immer die Gefahr, sie als Ausrede zu benutzen, weil man glaubt, der Zustand sei mit der Diagnose unveränderlich. Dass das Gehirn in jedem Lebensabschnitt plastisch formbar ist, hat man längst nachgewiesen. Mit einem unterdurchschnittlich großen Kleinhirn (Cerebellum) wird man vielleicht kein Profi-Skifahrer, aber kann durchaus Körperwahrnehmung und Motorik trainieren.
Es gibt aber auch eine andere Sicht auf die Dinge: Es gibt diagnostizierte Menschen – unabhängig davon ob es sich jetzt um eine seelische, körperliche oder neurologische Behinderung handelt – die gelernt haben, mit ihren Einschränkungen zu leben, die sich so akzeptieren wie sie sind, aber einen Schritt weitergehen: Was kann ich? Was möchte ich machen? Was kann ich tun, um das zu erreichen? Wo setze ich – die Diagnose als Erklärung benutzend – Grenzen und wo setze ich mir Luft nach oben? Aus dieser pragmatischen Haltung heraus kann Gutes entstehen, kann Erfolg kreiert werden und können positive Lebensabschnitte resultieren. Man muss keine Savants oder Nobelpreisträger zitieren, um individuelle Stärken zu erkennen. Grandin schreibt über verstärkte Detailwahrnehmung, über assoziatives Denken und Kreativität und ein mächtiges Langzeitgedächtnis, um die einströmenden Informationen zu speichern. Das sind Stärken, die mit den Defiziten ko-existieren.
Kennt man das Label des Betroffenen, leidet er, aber kennt sich der Betroffene selbst, weiß er die positiven Phasen zu schätzen und kann die zweifellos weiter existierenden negativen Phasen leichter überwinden oder kompensieren.
Mit Überwindung ist hier nicht Autismus oder eine andere psychiatrische Diagnose gemeint, sondern die Depressionen, die die Diagnose meist begleiten. Zu den Grundzügen der Depression gehört u.a., dass man gegen jegliche Ratschläge, die aus der Depression helfen könnten, immun wird. Es geht um Identifikation und auch Gruppenzugehörigkeit. Es ist viel leichter, gemeinsam zu sudern, dass nichts weitergeht statt einzeln aktiv zu werden und Maßnahmen zu ergreifen, die aus der misslichen Lage oder dem Gedankenkarussell befreien. Das klingt hart für Betroffene und ist es auch, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Denn es ist gerade das Wesen der Depression, nicht aktiv werden zu können, das ist keine Frage des Wollens allein, man muss auch wollen können, und Kommentare wie „Lach doch mal wieder öfter“ oder „Jeder hat mal einen schlechten Tag. Morgen sieht die Welt wieder anders aus“ sind eher kontraproduktiv, verstärken den Druck.
Jene, die es geschafft haben, sich aus der Geißel der Defizite zu befreien, ihr Leben zu leben, glücklich sind oder wenigstens phasenweise glücklich sind und dies nach außen tragen, haben dieselbe Diagnose wie die Unglücklichen auch, sie gehen nur anders damit um. Und bei allem Glück sind die Defizite immanent, treten aber nicht zwingend in den Vordergrund.
Ein Gedankenspiel:
Mal angenommen, die genetische Ursache des Klinefelter-Syndroms wäre nicht bekannt. Man wüsste nur, dass die Testosteronzufuhr manche Beschwerden lindert, aber Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu besonderen Talenten weiterhin erhalten bleiben. Einem Betroffenen wird nun aufgrund des Kriterienkatalogs das Syndrom diagnostiziert, er erhält Testosteronbehandlung, die körperlichen Symptome verschwinden oder werden gelindert, die Verhaltensauffälligkeiten und Talente bleiben. Hat er deswegen kein Klinefelter-Syndrom mehr?
So ist das auch beim Autismus. Therapie, Training und Anpassung lindern Defizite, besondere Talente bleiben. Die Diagnose bleibt Autismus, weil die Symptome eine neurologische (und genetische) Ursache haben. Im Gegensatz zu den Klinefelter-Menschen wissen aber nur rund 5 % der Autisten, dass ihr Autismus eine genetische Ursache hat (die XXY-Autisten wissen dagegen, dass ihr Autismus auf das zusätzliche X-Chromosom zurückführbar ist, denn die nachgewiesene Häufigkeit von Autismus bei XXY wäre schon ein seltsamer Zufall der Natur).
Und abschließend gibt die Außendarstellung längst nicht alles preis, was im Innenleben so vor sich geht, dass die Leichtigkeit von außen das Ergebnis mühsamen Trainings und Unterstützung vom Umfeld sein kann. Der Außenstehende sieht nur das Ergebnis und denkt sich womöglich: „Der fällt alles so leicht. Die leidet gar nicht.“
2. Wer nicht so ist, wie ich, simuliert.
Diagnostizierte Autisten werfen selbstdiagnostizierten oder verdachtsdiagnostizierten Autisten mitunter vor, sie buhlen bloß um Aufmerksamkeit, WOLLEN die Diagnose, weil sie besser klingt als diverse Persönlichkeitsstörungen oder weil es gar cool sei, ein „Aspie“ zu sein. Nicht selten werden Symptome abgesprochen, die man selbst nicht hat und daher kann es kein Autismus sein. Dabei heißt es nicht umsonst Spektrum – zwischen Kanner, atypischen Autismus und Asperger-Syndrom. Ich habe bisher noch keine zwei Autisten getroffen, die sich in jedem Symptom ähneln. Und außerdem – was heißt das für den Verdächtigen? Ist sein Leidensdruck weniger Wert, weil es vielleicht nicht Autismus ist, sondern etwas anderes? Zumal – wie ein Neurobiologe hier schrieb – der Übergang zwischen verschiedenen psychiatrischen Diagnosen fließend ist, und einzelne Merkmale von Persönlichkeitsstörungen auch bei Entwicklungsstörungen auftreten können (siehe Punktzahlen bei diversen Selbsttests).
Bei XXY-Menschen existiert das Spektrum ebenso, kein XXY ist gleich, jeder ist einzigartig, selbst wenn bestimmte Symptome häufiger auftreten, die in der Summe ein Syndrom ergeben. Was ist mit dem Einfluss der Vererbung durch die Eltern? Warum sollten bei allen Betroffenen die gleichen Gene auf dem zweiten X-Chromosom aktiviert werden? Warum sollte die Information bei auf dem X- oder Y-Chromosom bei jedem identisch sein? Das ist die Vielfalt des Menschen. So viel man derzeit über Autismus weiß, sind es mehrere Gene, die in bestimmten Kombinationen Autismus auslösen. Individuelle Gene, individueller Autismus.
3. Wettbewerb der Funktionalität
Es wird die Funktionalität gegeneinander ausgespielt, obwohl Funktionalität eine Perspektive von außen ist, nicht von innen. Ginge es nach Funktionalität, würde man Menschen mit Down-Syndrom immer noch nichts zutrauen. Dabei gibt es – mit guter Förderung – auch studierte Menschen mit Down-Syndrom.
Niedrigfunktional klingt nach „der kann nichts, also muss man auch nichts erwarten“. Hochfunktional klingt nach „der sollte viel können, also erwartet man sich auch mehr“. In Wahrheit ist es oft umgekehrt. Der Niedrigfunktionale kann viel mehr, kann es verbal aber nicht zeigen, während der Hochfunktionale darunter leidet, die Erwartungen nicht erfüllen zu können, weil er es ebenfalls verbal nicht zeigen kann: Im Kern dasselbe Problem trotz unterschiedlicher Stempel („label-locked thinking“).
Im vierten Kapitel von „The autistic brain“ hat Temple Grandin zwei nonverbale, aber intelligente Autisten vorgestellt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff Funktionalität gibt es bei autismus-kultur.de, eine fachliche Untermauerung kommt von der autistischen Autismusforscherin Michelle Dawson, und die autistische Bloggerin und Autorin Kirsten Lindsmith bringt in diesem kritischen Blogtext das starke Zitat:
The difference between high functioning autism and low functioning is that high functioning means your deficits are ignored, and low functioning means your assets are ignored.
Laura Tisoncik
Am Ende ihres Blogartikels nennt Lindsmith außerdem weitere Beispiele für vermeintlich niedrigfunktionale Autisten.
Fazit:
In Summe lese ich sowohl in Klinefelter-Selbsthilfegruppen als auch bei Autismus-Communities eine gewisse Neigung zur Verweigerung gegenüber dem Begriff Spektrum, gegenüber der Einzigartigkeit des Individuums, und dass ein Spektrum vielfältige, individuelle Ausprägungen mit sich bringt. So zu tun als ob jeder XXY ein normaler Mann sein, hormonelles Ungleichgewicht und Intersexualität sowie individuelles Verhalten nicht existieren, ist genauso spektrumsnegierend wie nicht ununterbrochen Leid nach außen spiegelnde Autisten als „gar keine echten Autisten“ abzuqualifizieren.
Das Leben ist kein Wettbewerb, wer schwerer von Autismus betroffen ist, oder wer von den XXY ein normaler Mann ist, und wer mit dem täglichen Leben eher kämpft. Wann immer man sich anders fühlt, ist es eine immense seelische Unterstützung, Gleichgesinnte zu finden. Letzendlich spüren ALLE diese Andersartigkeit und hadern mit der Nichtakzeptanz durch die Gesellschaft.
Machen wir es uns leichter, indem wir uns gegenseitig respektieren und voneinander lernen.
Nachtrag, 29.7.2015:
Grabenkämpfe gibt es auch woanders, etwa bei ADHS und allgemein Neurodiversität, siehe diesen Blogbeitrag.
Vielen Dank für den Beitrag!