Eltern …
sehen zunächst die Unfruchtbarkeit im Vordergrund, oftmals bereits ein Grund für eine Abtreibung, sofern der Gentest vor der Geburt veranlasst wurde. Weiters sind es die Lernschwierigkeiten, die belasten können, ebenso Defizite im Umgang mit Gleichaltrigen und teilweise Mobbing durch den weiblichen Körperbau, manchmal mit verstärkter Brustentwicklung ….
Ärzte …
setzen den Karyotyp 47,XXY und das Klinefelter-Syndrom gleich. Damit einhergehend fast immer ein Testosteronmangel, der behandelt werden muss. Sie sehen den Hormonmangel im Vordergrund und erklären damit die meisten Folgewirkungen, wie Schüchternheit, Depressionen, Probleme mit Gleichaltrigen, aber auch Osteoporose und Stoffwechselerkrankungen. Sie gehen meist davon aus, dass sich die Betroffenen ohnehin als Männer identifizieren und durch die Testosterontherapie maskulinisiert werden wollen.
Arbeitgeber und Kollegen …
können sich unter Klinefelter-Syndrom meist gar nichts vorstellen und landen am ehesten auf Wikipedia. Dort wird aber zu wenig ersichtlich, dass es sich um einen genetischen Ursprung mit einem großem Spektrum verschiedenster Auswirkungen handelt. Es besteht dann die Gefahr, dass sie die genannten Auswirkungen alle als gegeben hinnehmen und zu wenig auf Stichhaltigkeit bei der individuellen Person überprüfen. Sie gehen weiters davon aus, dass das Kernsymptom der Testosteronmangel ist und durch eine Behandlung alles gut wird, was ihnen negativ an der Person auffällt bzw. ihr negativ ausgelegt wird (= nicht jede Abweichung von der Norm ist notwendigerweise ein Defizit). Dass die Betreffenden eventuell vorhandene Defizite durch andere, auch aus Arbeitgebersicht relevante Stärken ausgleichen können, wird ebenfalls nirgends erwähnt bzw. nicht bedacht.
Die Betroffenen selbst …
- haben Glück und spüren kaum Auswirkungen.
- spüren Auswirkungen, wissen aber nicht woher sie kommen (= große Dunkelziffer)
- spüren die Auswirkungen und wissen um die medizinische Diagnose, aber machen außer der Testosteronbehandlung nichts, weil sie denken, damit wäre das abgehakt. (trifft für manche zu, für andere weniger)
- spüren die Auswirkungen und leiden darunter, keine Spezialisten und Gleichgesinnten zu finden, um sich darüber austauschen zu können
- gehen offen mit ihrer Veranlagung um und suchen den Austausch mit Gleichgesinnten und Ärzten.
Und was ist mit mir?
Mein Bild vom Klinefelter-Syndrom hat sich in den letzten elf Monaten ziemlich gewandelt und selbst jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, worum es sich genau handelt und welche Querverbindungen verschiedener Ursachen und Auswirkungen man ziehen darf. Ich versuche zu trennen, weil ich glaube, dass es nichts bringt, in den Oberbegriff Klinefelter-Syndrom oder XXY so viele Symptome wie möglich hineinzupacken, von denen jedes XXY-Individuum nur ein paar, aber nicht alle aufweist. Ein anderes Individuum wird sich nicht in allem wiedererkennen und wird befürchten, wegen etwas stigmatisiert zu werden, das er gar nicht hat.
Mein derzeitiger Kenntnisstand, basierend auf der gesammelten Literatur von rund 70 Fachartikeln, Austausch mit Betroffenen und Angehörigen, aber auch Forschern und Ärzten, ist der Folgende:
1. Die genetische Signatur 47,XXY hat nahezu jeder von uns, mit Ausnahme der Mosaikform 46,XY/47,XXY.
2. Das Klinefelter-Syndrom ist die Beschreibung der körperlichen Symptome durch Harry Klinefelter im Erstbericht von 1942 (= 9 Männer).
3. Hypogonadismus (niedrige Testosteronwerte) tritt bei fast allen XXY-Menschen auf und ist die Folge des zusätzlichen X-Chromosoms. Welche Gene den Hypogonadismus verursachen, ist noch unbekannt.
4. Niedrige Testosteronwerte verursachen Auswirkungen wie verringerte Aufmerksamkeit und Libido, verstärkte Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, erhöhte Neigung zu Depressionen und Unfruchtbarkeit (als Wechselwirkung mit den Sexualhormonen FSH und LH).
5. Teils genetisch, teils hormonell bedingt sind Auswirkungen wie eine weibliche Fett/Muskel-Verteilung, und damit einhergehend veränderter Körperbau, erhöhtes Risiko für Osteoporose und Metabolisches Syndrom.
6. Eher genetisch als hormonell zuzuordnen sind Probleme mit den Exekutivfunktionen, z.B. schlechtes Kurzzeitgedächtnis, Impulskontrolle und zielgerichtetes Handeln, aber auch Wahrnehmungsveränderungen (Sensory Integration Disorder), ebenso Legasthenie.
7. Defizite der Exekutivfunktionen und Wahrnehmungsveränderungen spielen außerdem bei psychiatrischen Veranlagungen wie ADHS, Autismus und Schizophrenie eine Rolle. Dies auch als Abgrenzung zum Klinefelter-Syndrom, das meist im Zusammenhang mit dem Testosteronmangel gesehen wird.
8. Der Testosteronmangel entwickelt sich jedoch nicht vor der Pubertät, ausgenommen die ausbleibende Minipubertät in den ersten drei Lebensmonaten (was aber nicht jeden XXY-Mensch betrifft); manche Erwachsene haben sogar normale Testostonwerte (und wer definiert überhaupt normal? Ist XY der Maßstab für XXY? Was ist für uns normal?). Für intersexuelle und weibliche XXY ist Testosteronmangel sogar der falsche Begriff. Sie haben einfach nur niedrige Werte und starten mitunter eine Östrogentherapie. Auch XXY-Menschen, die mit ihren weiblichen Eigenschaften in Einklang sind, empfinden niedrige Testosteronwerte nicht als Mangel. Wenn vom Geschlecht und von der Identität her kein Testosteronmangel vorliegt, sollte man m.E. nicht vom Klinefelter-Syndrom sprechen.
9. Defizite in der sprachlichen Entwicklung, im verbalen Ausdruck bzw. in der Kommunikation allgemein kompensieren viele XXY-Menschen durch das Denken in Bildern und Mustern/Strukturen, und eine verstärkte Detailwahrnehmung.
Worin unterscheidet sich mein Ansatz vom bisherigen in der Medizin?
Mein Ausgangspunkt ist nicht der Testosteronmangel, sondern die genetische Veranlagung: Alle anderen Auswirkungen sind zunächst die Folge der genetischen Veranlagung, und nicht eines Syndroms, das Folgeerscheinungen unterschiedlicher Ursachen, nämlich Genetik UND Hormone, zusammenfasst.
Übersicht:

Die Aufzählung ist natürlich unvollständig, soll aber bloß einen groben Eindruck liefern, wie ich mir das vorstelle. Den Begriff Klinefelter-Syndrom habe ich hier gar nicht mehr erwähnt, denn er umfasst jeweils von allen Kreisen und allen Aufzählungen immer nur eine Schnittmenge. In keinem Fall gibt es eine 100 %-Übereinstimmung, da selbst das Testosteron“defizit“ etwa für weibliche XXY kein Defizit ist.
Anders herum könnte man sagen, dass die aufgezählten Besonderheiten Teil der Vielfalt der genetischen Veranlagung XXY sind, und auch bei allen anderen Menschen mit normalem Chromosomensatz vorkommen können. Das zusätzliche X sorgt lediglich für eine erhöhte Häufigkeit dieser Besonderheiten.
Wenn Dich also jemand fragt, was Du hast bzw. Du es erklären möchtest… dann kannst Du statt zu sagen „Ich habe das Klinefelter-Syndrom“ auch sagen:
Ich habe niedrigere Testosteronwerte, einen anderen Stoffwechsel, eine veränderte Wahrnehmung (Reizfilterschwäche) und eine andere Denkweise. Sie sind Folge meiner genetischen Veranlagung.
Denn die genetische Veranlagung schließt die hormonellen Auswirkungen ein, die aber nicht bei jedem gleich sind.
Ich finde es ja immer wieder faszinierend was uns Menschen alles so ausmachen kann. Schade daß es so wenig Infos und Anlaufstellen gibt. Aber du arbeitest ja schon fleißig an der Wissensvermittlung was ich als sehr wichtig erachte. Weiter so!
Ach ja: Ich mag den vorletzten Satz!