XXY oder Klinefelter-Syndrom? Die Definitionsfrage

Mir ist bewusst, dass ich hier unbewusst in der deutschsprachigen Klinefelter-Community (so sie denn existiert) einen Paradigmenwechsel angestoßen habe.

Viele, wenn nicht alle von uns erhalten die Diagnose Klinefelter-Syndrom, weil ein zusätzliches X-Chromosom vorhanden ist. Beides bedingt sich demnach zwangsläufig. Jemand mit Klinefelter-Syndrom hat den Karyotop XXY und jemand mit Karyotyp XXY hat das Klinefelter-Syndrom.

Die Mehrheit der Männer mit dem Karyotyp 47,XXY empfindet sich als klar männlich, auch wenn sie über breitere Hüften, eventuell auch über eine ausgeprägte Brust und spärliche Körperbehaarung verfügen. Auch dann, wenn sie im Kraftsport versagen und im Teamsport nicht mithalten können. Sie identifizieren sich als Mann und profitieren entsprechend von der Testosteronersatztherapie, der sie männlicher werden lässt: Die Körperbehaarung nimmt zu, ebenso Libido und die – sagen wir – männliche Standfestigkeit, der Mut, sich unter seinesgleichen behaupten zu können.

Ginge man davon aus, dass alle Männer mit diesem besonderen Chromosomensatz sich als Männer identifizieren und sich auch dem Geschlecht entsprechend fühlen wollen, entspräche XXY dem Klinefelter-Syndrom. Denn das Syndrom entspricht dem Testosterondefizit.

Die Wahrheit ist aber etwas komplizierter. Wie unter 46, XY auch gibt es unter 47, XXY Männer, die sich nicht mit dieser Geschlechtsidentität identifizieren.

In our experience, both in research and in clinical prac-
tice, the two terms – KS and XXY – are almost always
used interchangeably. Yet, the study inquiries that we
received highlighted an interesting issue: Should there be
a distinction between XXY and KS? Males diagnosed with
KS will generally have an XXY karyotype, or variation
thereof. However, perhaps not everyone with a XXY
karyotype should be diagnosed with KS. KS defines char-
acteristics that are only unusual if found in a male. Com-
mon symptoms, such as low testosterone and breast
development, are not unexpected features (or symptoms)
if identified in a female.

Therefore, for an individual with an XXY karyotype who does not identify as male, KS may not be a suitable diagnosis.

Quelle: Thinking outside the square: Gender issues in Klinefelter’s syndrome and 47,XXY

Die Autoren des Artikels gehen sogar noch weiter: Denn diese Argumentation könnte man auch auf jene mit 47,XXY sehen, die sich als Mann identifizieren, aber nicht mit der Maskulinität der Gesellschaftsnorm, die die vermeintlichen Defizite als akzeptierten Teil ihres Wesens betrachten. Auch für sie kann die Diagnose Klinefelter-Syndrom unangemessen erscheinen.

Trotz der bekannten positiven und mitunter lebensverlängernden Effekte einer Testosteronersatztherapie ist diese möglicherweise für jene ungeeignet oder sogar schädlich, die zwar ihre Geschlechtsidentität angenommen haben, aber trotzdem nicht männlicher werden wollen. Sie stellen ihre Identität über negative gesundheitliche Aspekte.

Es ist daher wichtig anzuerkennen, dass nicht alle Betroffene die „Maskulinität der Norm“ annehmen wollen, einerseits, damit sich die Betroffenen nicht als *schräg* wahrnehmen, weil sie dem traditionellen Geschlechterbild nicht entsprechen, andererseits, damit sie sich nicht ständig als intersexuell wahrnehmen müssen , wie es von Medienberichten immer wieder transportiert wird und oft in enormen Stress und Scham resultiert.

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