Neue und alte Erkenntnisse zu XXY

Menschen mit zusätzlichem X-Chromosom zeigen ähnliche Längenverhältnisse vom Zeige- zum Ringer (2D: 4D) wie sie im Durchschnitt bei Frauen auftreten. Dieses Fingerlängenverhältnis wird gerne als Hinweis auf die Testosteronwerte vor der Geburt hergenommen (sicherer ist aber die Methode, den Abstand zwischen dem hinteren Ansatz des Hodensacks und des Anus zu messen). Für die Studie hat man 51 XXY, 153 XY und 153 XX getestet. (MANNING ET AL., 2013)

Menschen mit zusätzlichem X-Chromosom zeigen häufiger den stillen Subtyp (früher ADS genannt) von ADHS. In einer Studie von TARTAGLIA ET AL (2010) hatten von 57 XXY-Kinder- und Jugendliche 20 eine ADHS-Diagnose, und bis auf einen alle den Subtyp ADS (ohne bedeutende Merkmale von Hyperaktivität und Impulsivität).  Im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung stehen aber oft die hyperaktiven Fälle (meistens Kinder). Der auffälligste Typ ist also der Seltenste: 10 % sind hyperaktiv/impulsiv, 30 % unaufmerksam und 60 % kombiniert (Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit).

Quelle: weltsichtig.de

Interessanterweise haben auch Frauen eher den unaufmerksamen Typus:

Eine typische Erfahrung von Mädchen mit ADHS ist, dass sie in der Grundschule noch vergleichsweise gut zurecht kommen, da es hier eine vergleichsweise klare Struktur und Anweisung gibt. Mit dem Übergang zu einer weiterführenden Schule kompensieren viele Mädchen dann Defizite in der Konzentration durch übermässige Anstrengung und extremes Wiederholen des Stoffes. Es fällt ihnen schwer, sich im Unterricht zu beteiligen, sie wirken häufig abwesend und in Tagträumen versunken, können aber den Stoff des Unterrichts ohne Mühe verstehen und sich dann zumeist selbst zu Haus erarbeiten.

Quelle: http://web4health.info/de/answers/adhd-women-experience.htm

Mädchen mit ADHS sind weniger hyperaktiv, sondern neigen zu langanhaltenden Tagträumereien und sind schnell ablenkbar. Ab dem Zeitpunkt der Pubertät treten besonders ausgeprägte Beschwerden vor der Menstruation mit starken Stimmungsschwankungen auf. Erwachsene Frauen mit ADHS fallen durch eine sehr selbstunsichere, ängstliche Persönlichkeit mit einer starken Neigung zu Depressionen auf.

Quelle: http://www.netdoktor.de/Krankheiten/ADHS/Wissen/ADHS-bei-Erwachsenen-5737.html

Spekulation: Die weibliche Hormonverteilung [vor der Geburt] bewirkt auch eher eine weibliche Ausprägung der ADHS-Symptomatik bei XXY-Menschen.

Außerdem zeigen viele XXY-Menschen eine gestörte Grob- und Feinmotorik, etwa durch niedrige Muskelspannung, Gleichgewichtsstörungen, mangelnde Körperwahrnehmung, entsprechende Probleme beim Turnen (Höhenangst), beim Sprung vom Schwimmbrett, oder beim Klettern auf Bäume und Felsen. Sie stolpern öfters, stoßen gegen Türen, rempeln jemanden an, patzen sich beim Essen an, treten beim Gehen dem Vordermann in die Hacken oder haben Probleme mit dem Fangen von Bällen oder Gegenständen.

Auch die Sinnesorgane sind betroffen: Viele sind übersensibel gegenüber Geräuschen, haben Probleme, den anderen zu verstehen, wenn es im Hintergrund zu laut ist, werden auch durch zu laute Hintergrundgeräusche abgelenkt (oft fälschlicherweise als Schwerhörigkeit interpretiert), ebenso durch Bewegungen, Menschenmassen, Verkehr generell. Ich kenne XXY, die zudem sehr geruchsempfindlich sind (z.B. bei Essensgeruch, Parfüm oder Rauch), gegenüber flackerndem oder grellem Licht sowie gegenüber Berührungen. Das gesamte sensorische Spektrum, das auch beim idiopathischen Autismus (d.h. ohne bekannte Ursache) vorkommt, ist bei XXY anzutreffen, am häufigsten sind aber die Geräusch- und Bewegungsempfindlichkeit.

Hochsensibilität ist ein anderes Thema. Häufig beschreibt man XXY als sehr empathisch mit hohem Gerechtigkeitsempfinden. Bei empfundener Ungerechtigkeit sind lang anhaltende Grübeleien recht häufig und können zu Meltdowns oder Shutdowns führen.

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Was bedeutet das alles? Kein Grund zur Panik! Gegen motorische Schwierigkeiten hilft Sensorische Integrationstherapie, bei Sinnesüberempfindlichkeiten kann man sich anpassen, rechtzeitig zurückziehen, genug Ruhe gönnen, sich nicht unnötig zu lange bzw. zu vielen Reizen aussetzen. Das Gehirn lernt dazu, es ist plastisch verformbar.

Als Kind hatte ich Angst davor, auf Bäume zu klettern, hatte starke Höhenangst – als Erwachsener war ich schon auf Klettersteigen und in exponiertem Felsgelände unterwegs – hier eine kleine Auswahl aus den vergangenen Jahren:

klettern
Ich beim Klettersteigen (Schwierigkeit: B)
ausgesetzter Grat in den Dolomiten
ausgesetzter Grat in den Dolomiten
ungesicherte Felskletterei (maximal I+ nach UIAA)
ungesicherte Felskletterei (maximal I+ nach UIAA)
B-Klettersteig
B-Klettersteig
In rund 2800 m Höhe, auf teils stark ausgesetztem Steig.
In rund 2800 m Höhe, auf teils stark ausgesetztem Steig.

Ich möchte damit Mut machen, den XXY-Menschen selbst, aber auch den Eltern, die gerade frisch die Diagnose für ihren Sohn bekommen haben, möglicherweise selbst recherchieren und auf die vielen, möglichen negativen Begleiterscheinungen stoßen und dann ganz verzweifelt sind. Es MUSS nicht der schlimmste Fall eintreten. Man darf die Hoffnung nie aufgeben. Und vieles, was anfangs undenkbar scheint, kann später durchaus realisiert werden. Ich sehe mich als den lebenden Beweis – als jemand, der erst mit 9 Jahren Radfahren gelernt hat (seitdem aber nicht mehr damit aufgehört hat). Lasst Euch also nicht abschrecken!