Spielt eine veränderte Sinneswahrnehmung bei XXY eine Rolle?

Der letzte Blogbeitrag fasst das vierte Kapitel von Temple Grandins „The Autistic Brain“ zusammen, wo es über die sensorische Überreizung geht, um zu viel Informationen, und darum, dass diese Überladung mit Sinnesreizen gravierende Auswirkungen auf den Alltag von Autisten haben kann.

Ich habe mich im Zuge der Beschäftigung mit meiner eigenen Reizüberflutung irgendwann gefragt, ob es da Zusammenhänge geben kann. Seit ich denken kann, ist der Cocktailparty-Effekt bei mir nicht wirksam, d.h., mir ist es nicht möglich, aus einem Stimmengewirr herauszuhören, wenn jemand mit mir redet bzw. fällt mir die Konzentration dann unendlich schwer. Anfangs kann man dagegen vielleicht noch anschreien, irgendwann werde ich ruhig, bin überwältigt von der Geräuschkulisse, ziehe mich zurück und dulde die Situation nur noch. Einem XXY-Freund geht es ganz genauso, und dieser bekommt wesentlich länger zusätzliches Testosteron als ich, dieser reagiert zudem verstärkt auf Gerüche, welche ich etwa kaum noch wahrnehme. Die Frage ist wohl, ab wann eine verstärkte Wahrnehmung pathologisch wird: Dann, wenn sie das Alltagsleben beeinträchtigt.

Der Leiter der österreichischen Selbsthilfegruppe schrieb mir im September 2014:

Es gibt keine aktuellen Forschungen über KS-Betroffene mit Hintergrundgeräuschen. Die Auskunft der Ärzte war einheitlich, dass das vermutlich mit einem mehr oder weniger leichten Gehörschaden zu tun hat. Zwei HNO-Ärzte haben mich wissen lassen, dass es unter Umständen auch eine leichte bis schwere Verschlechterung des Hören zu Folge hat. Da Du von den Hintergrundgeräuschen irritiert bist, wäre es nicht schlecht, wenn Du es bei einem HNO-Arzt abklären lässt. Das Hintergrundgeräusch hat nichts mit dem KS zu tun.

Davon abgesehen, dass ich sehr musikalisch bin, Töne also sehr wohl gut herausfiltern kann, in der Schulzeit ein nahezu absolutes Gehör hatte, als ich über 11 Jahre hinweg Gitarre spielen lernte, mehrere Jahre im Chor sang und auch sonst viel Musik höre, habe ich nicht das Gefühl, dass es alleine Hintergrundgeräusche sind, die mir zu schaffen machen. Ich weiß aber, wo die Meinung der befragten Ärzte kommt, dass es ein Gehörschaden sei:

In der Zeitschrift Gehirn & Geist, Nr. 2/2012, geht es um Wahrnehmung – Die Welt der Sinne, dort ist auf S. 32-38 das erwähnte Cocktailparty-Phänomen beschrieben, und dass die Filterschwäche vor allem mit dem Alter bzw. mit nachlassendem Gehör auftritt. Der Autor des Artikels, der Neurophysiologe Holger Schulze, erwähnt hier jedoch nirgends die Möglichkeit, dass diese Reizfilterschwäche genetisch erworben sein könnte, wie es etwa bei Autismus der Fall ist.

Dass es keine aktuellen Forschungen zu Hintergrundgeräuschen, oder allgemeiner gefasst Reizfilterschwäche, gibt, bedeutet aber nicht, dass da kein Zusammenhang gegeben sein muss. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal festhalten, dass Männer mit zusätzlichem X-Chromosomen Individuen sind, der eine hat’s, der andere nicht. Das Klinefelter-Syndrom ist bloß eine Ansammlung von Symptomen, die nicht bei jedem auftreten müssen.

Zur Begrifflichkeit:

  • Sensory gating Disorder = Reizfilterstörung (Information kann vom Gehirn nicht richtig verarbeitet werden)
  • Sensory overload = Reizüberflutung/Reizüberladung
  • Sensory integrity disorder und Sensory Processing Disorder beschreiben meines Wissens nach dasselbe
  • Hypo/Hyperreaction bzw. Over/Underreponsiveness to sensory stimuli = Über/Unterreaktion auf sensorische Reize

Das Kapitel von Temple Grandin verdeutlicht, wie wenige Studien sich bisher mit der Reizfilterschwäche bei Autisten beschäftigt haben. Immerhin hat man im neuen DSM-V die „Über/Unterreaktion auf sensorische Reize“ in die Diagnosekriterien für Autismus aufgenommen. Die Forschung zum zusätzlichen X-Chromosom fand in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend entkoppelt vom Autismus statt, aber im Jahr 2011 ist wenigstens ein Artikel erschienen, der diese Reizfilterschwäche bei XXY-Männern nachgewiesen hat:

Van Rijn et al, Psychophysiological Markers of Vulnerability to Psychopathology in Men with an Extra X Chromosome (XXY), Volltext

One hypothesis is that individuals with Klinefelter syndrome and individuals with psychotic disorders might share some of the underlying brain dysfunctions that play a role in the development of psychotic or schizotypal symptoms.

Eine Hypothese ist, dass Individuen mit Klinefelter-Syndrom und Individuen mit psychotischen Störungen manche der zugrundeliegenden Gehirndysfunktionen teilen könnten, die eine Rolle bei der Entwicklung psychotischer oder schizotypischer Symptome spielen. Typisch für Psychosen und Schizophrenie sind Einschränkungen bei den SPEM (smooth pursuit eye movements, d.h., die Augen folgen dem sich bewegenden Objekt) und bei der Filterung von Sinnesreizen.  In dieser Studie mit 15 XXY-Männer und 15 Kontrollpersonen hat man diese Beeinträchtigungen tatsächlich gefunden, und zwar mit PPI-Defiziten (PPI = Prepulse Inhibition), nicht aber mit P50-Unterdrückung.

Zur Erklärung:

Bei der PPI-Methode ist die Ausprägung der Lidschlagreaktion unterdrückt, wenn dem akustischen Schreckreiz ein schwächerer Reiz vorausgeht. Durch schwächere Reize stellt sich das Gehirn auf mögliche, weitere Reize ein, dadurch vermindert sich der Erschreckungseffekt und einer Reizüberflutung wird vorgebeugt.

Bei der P50-Methode ist das Ausmaß der Reizfilterung in ereignisbezogenen Potentialen (ERP) widergespiegelt, die durch zwei identische Klicks in rascher Abfolge hervorgerufen werden.  ERP ist die gemessene Reaktion des Gehirns als direkte Folge sensorischer, kognitiver und motorischer Ereignisse bzw. auf jegliche Reize. Bei normaler Reizfilterung: Wenn eine Person im zeitlichen Abstand von 50 Millisekunden ein Klickpaar hört, filtert die Person den zweiten Klick heraus, da er als redundant wahrgenommen wird. Die Filterung kann in der P50-Welle gesehen werden, die im Gehirn 50 Millisekunden nach dem Klick auftritt. Niedrige Werte der P50-Welle deuten an, dass eine Reizfilterung stattfand. Hohe Werte der P50-Welle deuten eine Reizfilterschwäche an.

Bei Menschen mit Schizophrenie gibt es sowohl bei PPI als auch bei P50 Störungen, während bei XXY-Männer in dieser Studie nur PPI beeinträchtigt ist, P50 aber normal ist.

It has been postulated that such sensory gating helps to “regulate environmental inputs, to navigate successfully in a stimulus-laden world, and to selectively allocate attentional resources to salient stimuli”. Hence, individuals with PPI deficits are prone to be flooded with information, resulting in sensory overload and cognitive fragmentation. It will be interesting to examine in future and much larger studies, which aspects of the cognitive and behavioral phenotype of Klinefelter syndrome are related to PPI deficits.

Die Reizfilterung hilft dabei, den Input aus der Umwelt zu regeln, sich erfolgreich in einer reizgeladenen Welt zurechtzufinden, und sich selektiv hervorstechenden Reizen zuzuwenden. Individuen mit PPI-Defiziten sind anfällig für Informationsüberflutung, die in einer Reizüberflutung und kognitiven Zersplitterung resultiert.Künftig sollte untersucht werden, welche Aspekte des kognitiven und verhaltesgesteuerten Phänotyps des Klinefelter-Syndroms mit PPI-Defiziten zusammenhängen.

Damit schließt sich der Kreis wieder zu dem Artikel über Reizfilterschwäche und autistischer Verhaltensweisen.

Ich hatte ja bereits die Idee, beides in einer Art Umfrage bei XXY-Männern zu erforschen. Ob die Idee jemals aufgenommen wird, ist aber fraglich. Ganz offen gesagt hatte ich bisher nicht das Gefühl, dass die Forschung in dieser Richtung ernstgenommen wird. Warum arbeitet der niederländische Klinefelter-Verein hingegen so intensiv mit den XXY-Forschern zusammen und spricht auch Themen an, die Eltern lieber nicht hören wollen?

Denn vergessen wir einmal diese vorurteilsbeladenen Fachbegriffe Autismus, ADHS und Schizophrenie, oder generell Psychose – in dieser Studie wurde in erster Linie gezeigt, dass XXY-Männer eine Reizfilterschwäche aufweisen, die nicht nur Geräusche betreffen muss, sondern sich auf alle Sinnesreize aufweisen kann. Die Studie umfasst gerade einmal 15 XXY-Männer, aber die Klinefelter-Vereine in Großbritannien und in den USA bestätigen das Studienergebnis. Deren Angaben zufolge leiden XXY-Männer auch unter anderen Sinnesüberreizen, wie Licht, Berührungen, Geruch oder Bewegungen.

Diese sensory gating-Studien hat man auch bei Autisten durchgeführt, z.B. in dieser Studie von 2011, wo PPI deutlich beeinträchtigt war, während in dieser Studie von 2002 die P50-Unterdrückung normal war. Meiner Spekulation zu Folge leiden XXY-Männer unter einer ähnlichen Reizfilterschwäche wie Autisten, entsprechend könnten auch die gleichen Gehirnareale betroffen sein. Die Hypothese steht allerdings auf den wackligen Beinen einer einzigen Studie über XXY-Männer.

Schlussfolgerung:

Alles zusammengereimter Blödsinn, ich habe bloß einen Gehörschaden? Oder ist das kein Zufall, wenn mehrere XXY-Männer von einer Reizfilterschwäche berichten? Dann ist da diese Studie mit PPI und P50, und weitere Aussagen von anderen, ausländischen Vereinen. Im Leitfaden für Eltern und Lehrer von XXY-Kindern steht z.B. geschrieben

Background noise, when trying to pay attention, is hugely distracting, as is movement. As a result a teacher may have little effect even working 1:1 if the classroom is busy with activity. Homework is unlikely to progress if a sibling is in the same room working on another task, and parents should not expect to engage a boy in discussion if the TV is on in the background! Even a ticking clock or hissing pipe may be too much.

There is also the problem of poor concentration, similar to ADD/ADHD which leaves the child with mental overload at a time when the need for a clear head and single focus would relieve some of the anguish of performance difficulties.

Still and relaxed classrooms reduce the likelihood of constant distraction, allowing an appropriate focus on the task in hand. Quiet is often an unattainable ideal in classrooms, however off-task conversations nearby or sudden callings out will certainly not help. Many boys with KS have very sensitive hearing; whistling electronics and plumbing and ticking clocks can be infuriating, raising unprecedented levels of frustration and anger at what to all others seems trivial.

KS boys will often notice all sorts of things around the classroom that may seem insignificant or unimportant to the teacher. There is a difficult balance between distraction and stimulation. Do the pictures on the wall and objects around help him to remain on task, or do they draw him away at a tangent? Visual stimuli can be a powerful tool with these boys, don’t underestimate the power of something seemingly trivial that captures the eye – where the eye leads the mind will rapidly follow.

Hintergrundgeräusche sind extrem ablenkend, ebenso Bewegung, wenn Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet werden soll. Selbst im 1:1 Gespräch kann ein Lehrer wenig ausrichten, wenn der Klassenraum voller Aktivität ist. Hausaufgaben werden eher nicht erledigt, wenn ein Geschwister im gleichen Raum mit etwas anderem beschäftigt ist, und Eltern sollten nicht erwarten, dass sich ein Bub an einer Diskussion beteiligt, wenn ein Fernseher im Hintergrund läuft! Selbst eine tickende Uhr oder ein zischendes Rohr kann zuviel sein.

Es gibt außerdem das Problem der schlechten Konzentration, ähnlich zu ADS/ADHS, das bei einem Kind einen mentalen Overload hinterlässt, wenn es einen klaren Kopf braucht und ein einziger Fokus die Angst vor Bewältigung nehmen würde.

Stille und entspannte Klassenräume reduzieren die Wahrscheinlichkeit ständiger Ablenkung, und ermöglichen einen angemessenen Fokus auf die Aufgabe. Ruhe ist oft ein unerreichbares Ideal in Klassenräumen, dennoch werden fachfremde Unterhaltungen oder plötzliche Rufe bestimmt nicht helfen. Viele Buben mit Klinefelter-Syndrom besitzen ein sehr sensibles Gehör; pfeifende Elektronik und tickende Uhren können zur Verzweiflung bringen, ein unvorhersagtes Maß an Frustration und Ärger hervorrufen, was anderen trivial erscheint.

KS-Buben werden oft alle Arten von Dingen im Klassenraum bemerken, die dem Lehrer unbedeutend oder unwichtig erscheinen. Es gibt eine schwierige Balance zwischen Ablenkung und Reizen. Helfen ihm die Bilder an der Wand und die Objekte um ihn herum dabei, bei der Aufgabe zu bleiben, oder bringen sie ihn davon ab? Optische Reize können ein mächtiges Werkzeug für diese Buben sein, unterschätze nicht die Macht von etwas scheinbar Trivialen, das das Auge fängt – wo das Auge hinführt, werden die Gedanken rasch folgen.

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In Deutschland gibt es rund 28 000 diagnostizierte XXY-Betroffene, in Österreich etwa 2700.

Wie geht es diesen?

Frei von psychiatrischen Diagnosen und mangels breit angelegter Studien nur Vermutungen – wer hat noch Schwierigkeiten mit Reizüberflutung?

PS: Kommentarfunktion wurde wieder reaktiviert.