Wann Fachbegriffe sinnvoll sind

Ich sehe es an diesem Blog. Vielfach benutze ich Fachsprache mangels einer entsprechenden Übersetzung oder weil man bestimmte Fachbegriffe nicht übersetzen kann. Deswegen befürchte ich, dass viele Leser nicht verstehen, was ich da schreibe und gebe auch zu, dass es nicht so einfach ist, das alles zu verstehen – ich tue mir ja selbst schwer damit, weil das alles Neuland ist und ich bisher noch niemanden getroffen habe, mit dem ich – Auge in Auge – darüber sprechen kann.

In einem Kommentar unter diesem Blogbeitrag über „Autismus outen“ las ich diesen schönen Absatz:

The label is only useful if the people you’re talking to have a good understanding of it. The specifics are more universally useful since they can be applied immediately, regardless of the listener’s level of understanding. It’s almost like the difference between writing an article for a magazine and writing a paper for a peer-reviewed journal. By virtue of their being peers, the audience of the journal will understand terms and labels in the paper that the audience of the magazine will not. But the audience of the magazine will be able to understand specific examples that they can relate to, regardless of their background.

Übersetzung:

Eine Bezeichnung (bzw. ein Etikett) ist nur dann sinnvoll, wenn die Leute, mit denen man spricht, ein gutes Verständnis davon haben. Genaue Angaben sind allgemeiner einsetzbar, weil man sie unmittelbar anwenden kann, unabhängig davon, wie viel der Zuhörer davon versteht. Es ist beinahe wie der Unterschied zwischen einem Artikel für ein Magazin und einem wissenschaftlichen Artikel für eine Fachzeitschrift, das von Fachleuten begutachtet wird. Da es sich um Fachkollegen handelt, werden die Leser der Fachzeitschrift Begriffe und Etikettierungen in dem wissenschaftlichen Artikel verstehen, die des Magazins hingegen nicht. Aber die Leser des Magazins werden in der Lage sein, spezielle Beispiele zu verstehen, die sie zuordnen können, unabhängig von ihrem fachlichen Hintergrund.

*

Der verlinkte Blogartikel beschäftigt sich mit der Frage, wie sinnvoll es ist, seinem Arbeitgeber (oder Freunden) mitzuteilen, ob man Autismus hat. Wirft man nur ein Schlagwort hin (in unserem Fall: Klinefelter), weiß der durchschnittliche Mensch erst einmal gar nichts. Er beginnt – wenn er neugierig ist – selbst zu recherchieren, stößt in den meisten Fällen nur auf die negative Seite dieser Störung/Krankheit/Behinderung. Und hat folglich eher ein negatives Bild im Kopf, übersieht aber die positiven Seiten. Spricht man hingegen konkret an, wo es zu (inneren und äußeren) Konflikten kommt, kann die Umwelt unmittelbar darauf reagieren.

Statt zu sagen „ich bin sehr lärmempfindlich, weil ich KS habe“ könnte man auch sagen:

  • „Meine Ohren sind sehr lärmempfindlich – kannst Du bitte das Radio leiser drehen, weil es mich sonst sehr in meiner Konzentration stört?“

Weitere (geänderte) Beispiele (aus dem Blogtext):

  • „Ich hab Schwierigkeiten, mich verbal auszudrücken, wenn ich nervös bin. Wäre es möglich, unser Gespräch zuerst per E-Mail zu beginnen?“ Um zu zeigen, dass man durchaus effektiv und intelligent kommunizieren kann, bevor man jemanden trifft.
  • Wenn ich wegen der Hintergrundgeräusche und weil jeder durcheinander spricht, Probleme mit Gruppenmeetings habe. „Entschuldigung, aber es ist für mich manchmal schwer, den Hintergrundlärm von den Stimmen herausfiltern – Eure Gehirne machen das automatisch, meines nicht, und wenn es mich überwältigt, kann ich kaum noch zuhören oder etwas dazu sagen. Kann bitte nur einer nach dem anderen reden?
  • „Ich kann nur einem zur gleichen Zeit zuhören. Bitte einer nach dem anderen.“
  • Wenn ich wegen Lärm halb ausraste, warte ich, bis ich mich beruhigt habe. Wenn dann jemand frag, sag ich bloß „manchmal erschreckt mich/belastet mich Lärm, und ich brauche etwas Zeit, um mich danach weider zu entspannen.“
  • Wenn mich jemand fragt, ob er mich anrufen kann, schlage ich E-Mail oder Skype vor, und habe noch dazu noch ein schriftliches Protokoll des Gespräches (-> Kurzzeitgedächtnis).
  • Wenn ich etwas nicht verstehe, oder Probleme habe, es zu verarbeiten bzw. zu kommunizieren, und ich brauche Hilfe, sag ich das. Die Worte „Sorry, ich hab nicht verstanden, was du sagst, könntest Du es bitte langsamer sagen oder wiederholen?“ sind zwar die ersten Male schwer, aber es wird leichter. Ebenso „Bitte lass mich einen Augenblick darüber nachdenken“.

*

Für mich persönlich gilt: Ich habe kein Problem damit, offen zu sagen, was ich habe, aber ich platze auch nicht sofort damit heraus. Manchmal gibt es aber auch Situationen, wo andere glauben, das sei bloß Einstellungssache und man habe bloß schlechte Manieren und tue etwas mit Absicht so, etwas aus Arroganz oder weil man provozieren möchte. Das kann man mit den aufgezählten Beispielen nicht alleine erklären. Die Gefahr besteht immer, dass jemand glaubt, mit einem Sammelbegriff wolle man sich aus der Verantwortung stehlen, etwas an sich zu verändern. Rechtfertigung statt Begründung. Ich denke aber, dass das in den meisten Fällen nicht zutrifft. Viele werden ihr ganzes Leben versucht haben, die schlechten Verhaltensweisen abzulegen und sich gefragt haben, warum es nicht oder nur langsam geht.

Deswegen ist mein Appell an das Umfeld:

Verurteilt die nicht, die anders sind, die sich anders verhalten!
Habt Respekt und Geduld!
Benutzt nicht das Totschlagargument „Du suchst nur eine Ausrede für Dein Verhalten“!

Das, was eine solche Kondition mit sich bringt, sind nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken.

Sensibel sein
ein treuer Freund
kreativ
großer Gerechtigkeitsinn
Ehrlichkeit
nicht manipulativ
guter Blick für Details
Liebe zu Tieren
sehr konzentriert, wenn spezielle Interessen eingesetzt werden können
zum Teil ein sehr gutes Langzeitgedächtnis
etc.

Auch das kann durch das zusätzliche X-Chromosom bedingt sind. Bitte nicht nur das Schlechte im Menschen sehen. Wertschätzung der Stärken ist wichtig. Anerkennung. Positive Verstärkung statt Bestrafung der Schwächen, was oft mit einem Abwärtstrudeln des Selbstwertgefühls endet. Motivation ist wichtig.

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