Der autistischen Bloggerin Sonnolenta gelingt es immer wieder, in gut verständlichen Sätzen Situationen zu beschreiben, die sowohl für Autisten als auch für manche XXYs problematisch sind – meist soziale Situationen.
Den folgenden Text hat sie am Neujahrstag geschrieben und ich übersetze ihn gerne, da er nicht nur auf Autismus, sondern auch auf XXY anwendbar ist, bzw. auf jede Form einer psychischen Erkrankung bzw. unsichtbaren, kommunikativen Störung.
http://sonnolenta.com/2015/01/01/autism-im-not-making-excuses-im-setting-limits/
Falls es eins gibt, was ich seit meiner Autismus-Diagnose von 2011 gelernt habe, dann sich selbst Grenzen zu setzen. Ich war das niemals gewohnt, wie Du siehst. Ich hätte mich selbst härter und härter dazu getrieben, die Erwartungen von jedem und allem um mich herum zu erfüllen.
Und das hat niemals gut geendet. Ich kam von einem Meltdown zum anderen. Mein Selbstvertrauen wäre gestiegen, nur um im Nebel und Scham nach dem Meltdown niedergeknüppelt zu werden. Ich fühlte mich wie ein kleines Schiff, das auf der schweren See hin und her geworfen wird, ohne Aussicht auf Besserung. Zu anderen Zeiten fühlte ich mich ein Ertrinkender.
Die Leute, die mich umgaben, machten meine Situation nicht leichter oder erträglicher. Sie machten es schlimmer – was schwierig war, weil es Leute waren, die unbedingt akzeptieren und lieben hätten sollen. Sie stießen mich härter und härter, und wenn ich niederging, drückten sie scharf ihren Ärger und Missgefallen aus. Wenn ich um Hilfe bat, teilten sie mir mit, dass ich auf falsche Art um Hilfe bat. Oder sie kritisierten die Gründe, weshalb ich überhaupt erst um Hilfe bat. Sie verstärkten schmerzhafte Muster der Selbsterkennung, in dem sie mich an die Tatsache erinnerten, dass ich beschämend oder schwierig war. Inakzeptabel oder seelisch krank. Unangemessen oder unreif. Oder dass, wenn ich Hilfe brauchte, es bedeutete, dass ich hoffnungslos oder wertlos war. Jede positive Qualitäten, die ich haben könnte, wurden aus dem Fenster geworfen, da diese Qualitäten nicht im Entferntesten den Umstand kompensierten, dass da „jemand nicht ganz bei Sinnen“ wäre. Und so ging ich durchs Leben – ich wollte immer den Leuten gefallen, sie zufrieden machen, sie sehen lassen, dass ich nicht all diese „schlechten“ Dinge war, doch versagte ich kläglich beinahe täglich, da ich mich weit über meine persönlichen Grenzen hinaus antrieb. Dieser endlose Zyklus trug dazu dabei, dass ich Depressionen, Panikattacken und schwere Schlaflosigkeit bekam, sowie gestörtes Essverhalten.
Der Erhalt der Autismus-Diagnose war anfangs eine Offenbarung. Sie brachte mich dazu, den Sinn in den Dingen zu erkennen. Sie war ein frischer Wind, der mir erlaubte aufzuhören, mich selbst fertigzumachen und weit über meine Grenzen zu treiben. Ich war nicht „normal“. Und das war vollkommen richtig so. Ich würde niemals „normal“ sein. Und je schneller ich das anerkannte und mein Leben neu ausrichtete, desto schneller würde ich ein Leben leben können, das sich mehr im Einklang mit meiner einzigartigen Neurologie und Fähigkeiten befand.
Nichtdiagnostizierter Autismus verbunden mit komorbider Depression und Angsterkrankung halfen dabei, meine zahlreichen Herausforderungen, Schwierigkeiten und Unterschiede zu erklären. Aber nichtdiagnostizierter Autismus und seelische Erkrankungen, die damit einhergehen, waren keine Ausrede.
Falls Autismus ein „Grund“ wäre, müsste ich die Kontrolle darüber übernehmen. Ich müsste mein Leben neu organisieren, damit Autismus nicht als Ausrede gebrauchen müsste. Ich hatte viel Arbeit vor mir. Ich übernahm die Verantwortung für mein Leben, indem ich deutliche Grenzen setzte. Leider fand ich heraus, dass viele Leute nicht zwischen „Grund“ und „Ausrede“ unterscheiden. Darum lasst mich versuchen, diese Konzepte besser zu erklären:
Ein Grund erklärt die Tatsachen, die um ein Problem oder eine Situation bestehen, während eine Ausrede versucht, das Problem oder die Situation zu rechtfertigen, üblicherweise durch Verleugnung. Wenn ihr „Autism AND reason AND excuse“ googelt, erhaltet ihr tausende Ergebnisse. Das ist nicht nur in der erwachsenen Autismus-Community ein heißes Thema, sondern auch unter den Eltern von autistischen Kindern. Autismus als Ausrede verwenden.
Als ich herausfand, dass ich autistisch war, brach ich dazu auf, Dinge in meinem Leben und in meiner Umgebung zu identifizieren, die zu Stress, Meltdown-Auslöser oder Defizite der Exekutivfunktionen beitrugen. Ein typisches Muster vor der Diagnose war für mich, sich selbst zu zwingen, in eine bestimmte Situation zu passen – egal, wie sehr ich meinen Körper und Geist damit stresste. Ich war der Überzeugung, dass ich bloß eine schwache/fehlerhafte Person war, die sich „eine dickere Haut zulegen“ lassen sollte und Schwierigkeiten aushalten sollte, um sich zu ändern und zu verbessern. Doch das Problem mit dieser Methode war, dass ich rasch meine Ressourcen verbrauchte, was mich ohne die Fähigkeit zurückließ, mit Stress umzugehen, ein normales Gespräch zu führen, mit Leuten zu interagieren, Geduld und Voraussicht in sozialen Situationen zu haben, und Meltdowns zu vermeiden. Ich machte eine Reihe von sozialen Fehlern. Ich konnte zu den Leuten grob sein, ohne es zu bemerken. Ich erfuhr ausgeprägte emotionale Dysregulierung, und lebe in einem Zustand des nahen oder vollständigen Meltdowns.
Diesen Weg fortzusetzen, als ich erst einmal herausfand, dass ich autistisch war, wäre verantwortungslos und katastrophal. Autismus war der GRUND dafür, meinen Lebensstil zu ändern. Ich entschied mich dafür, Kontrolle und Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, da ich autistisch bin. Falls ich mich dazu entschlossen hätte, Autismus als Ausrede in diesem Beispiel zu verwenden, hätte ich mein Leben weiter in der Art gelebt, die kontraproduktiv und ungesund für mich wäre – sowohl neurologisch als auch psychisch. Und wenn Dinge den Bach heruntergingen und ich auf Schwierigkeiten traf? Ein Ausrede-enthaltenes Beispiel würde etwa so aussehen:
„Es geschah, weil ich autistisch bin. Ich habe keine Kontrolle darüber. So sieht es aus. Ich bin autistisch, und wenn Du das nicht magst, dann lern damit zu leben.“
<— GENAU DAS HIER. Das ist ein Beispiel dafür, Autismus als Ausrede zu gebrauchen, und das ist nicht, wie ich mich entschied, mein autistisches Leben zu handhaben.
Obwohl ich aktive Kontrolle über mein Leben übernehme und große Veränderungen in meinem Lebensstil herbeiführe, empfinde ich weiterhin die Last des Missfallens in vielen Situationen. Leute, die mir das Gefühl geben, ich könnte mein Leben nicht in einer „normalen“, extrovertierten, aktiven und neurotypischen Weise leben, dann suche ich Ausflüchte. Ich fühle mich so in meinem Leben, und besonders in meinen Angelegenheiten. Ich fühle mich ständig über meine persönlichen Grenzen gestoßen, die ich für mich selbst aufstellte, um meine zahlreichen Bedürfnisse am besten zu kontrollieren. Ich möchte nicht über diese Grenzen gestoßen werden, da ich nicht überwältigt werden und zusammenbrechen will. Ich will innerhalb meiner Grenzen bleiben, so wie ein Automotor nicht über seine Drehzahlgrenze gedrängt werden will. Dränge den Automor für lange Zeit in den roten Bereich, und was passiert? Schließlich ergibt sich eine Kettenreaktion mechanischer Fehlfunktionen.
Die Gesellschaft diktiert, dass eine Person in der Lage sein sollte, etwas von A bis Z zu tun, und falls sie das nicht können, sind sie kein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Gesellschaftliche Standards entscheiden darüber, was akzeptabel, angemessen und genug ist. Behinderte Menschen fallen selten in diese gesellschaften Standards. Menschen mit unsichtbaren Behinderungen? Das kann sogar komplizierter sein, da die Gesellschaft statt unsere Behinderungen zu sehen und anzuerkennen, sich dafür entscheidet, ein Label aufzudrücken. Die Gesellschaft fällt ein Urteil und sagt „Du bist faul“ oder „Du bist geisteskrank“ oder „Du bist schwierig“ und so weiter und so fort. Reicht es nicht, einfach anzuerkennen, dass Menschen verschieden sind und dass manche Menschen Grenzen setzen müssen, was sie können und mit was sie nicht umgehen können? Warum erhält die Gesellschaft das Recht, sich als Richter, Geschworene und Henker zu verhalten? Ich weiß keine Lösung für meine derzeitige Zwickmühle – ich weiß nur, dass ich die Wellen zurückdrücken muss. Sehr vorsichtig.
Klare persönliche Grenzen setzen ist für autistische Menschen sehr wichtig. Wir brauchen Ordnung, Routine und Struktur. Selbst kleine Änderungen oder Unterbrechungen können beträchtlichen Stress und Chaos für uns erzeugen. Wie ein kleiner Stein, der deine Windschutzscheibe trifft und einen winzigen Riss erzeugt, der sich plötzlich ausdehnt und eine viel größere Fläche umfasst. Eine Kettenreaktion wird in Gang gebracht, die rasch einen Dominoeffekt weiterer Symptome und Auswirkungen nach sich zieht. Mein Job als eine neurodivergente Person, die so verantwortungsvoll wie möglich mit meiner Neurologie umzugehen versucht, ist es, dies zu vermeiden. Weil Autismus eine gültige Begründung ist, aber ich verweigere mich, es als Ausrede zu benutzen.
Es ist ein fantastischer Beitrag, der mir verschlossen geblieben wäre, hätte ich ihn im Englischen lesen müssen. Danke für Deine Übersetzung.