Im ersten Kapitel von Temple Grandins „The autistic brain“ schildert sie, wie schrittweise die Diagnose Autismus in den Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) aufgenommen wurde. Es lohnt sich, die Hintergründe genauer zu betrachten, dann versteht man auch, woher die vor allem medial so gepushte angebliche „Autismus-Epidemie“ kommt.
Folgende Zeilen fassen die Seiten 3-20 zusammen:
Erstmals hat Leo Kanner 1943 in einer wissenschaftlichen Zeitschrift von der „Autistic disturbance of affective contact“ (autistische Störung bei affektivem Kontakt) gesprochen, im ersten Leitfaden, dem DSM-I, der 1952 erschien, gab es noch keine explizite Autismus-Diagnose. Der Begriff tauchte erstmals unter der Zusammenfassung schizophrener Symptome auf: psychotische Reaktionen bei Kindern, die sich vorwiegend durch Autismus äußern.
Im nächsten DSM-II, der 1968 erschien, wurde der Begriff Autismus gar nicht genannt, erneut gab es nur zwei Wortmeldungen unter den Symptomen von Schizophrenie, u.a. „autistische, atypische und introvertiertes Verhalten“ sowie „autistisches Denken“.
Wesentliche Neuerungen brachte erst der DSM-III im Jahr 1980, der den frühkindlichen (Kanner-) Autismus unter der größeren Kategorie Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (engl.: Pervasive Development Disorders, PDD) verankerte.
Für die Diagnose mussten folgende 6 Kriterien erfüllt sein:
- Abwesenheit von Symptomen, die auf Schizophrenie hindeuten
- Beginn vor dem 30. Monat
- Tiefgreifendes Fehlen von Interesse gegenüber anderen Menschen
- Große Defizite in der Sprachentwicklung
- Falls Sprache vorhanden, sonderbare Sprechweisen wie unmittelbare und verzögerte Echolalie, metaphorische Sprache und Umkehr von Pronomen
- Bizarre Reaktionen auf verschiedene Aspekte der Umgebung, z.B. Widerstand gegen Veränderungen, sonderbare Interessen gegenüber bewegten oder starren Objekten
Der DSM-III wurde 1987 revidiert, DSM-III-R genannt.
Dabei wurden die 6 Kriterien auf 16 Kriterien erweitert. Diese wurden in 3 Kategorien unterteilt, wovon zumindest 8 Kriterien erfüllt sein mussten, davon mindestens 2 aus Kategorie A, 1 aus Kategorie B und 1 aus Kategorie C.
Die Erweiterung der Kriterien, von denen eine bestimmte Mindestzahl für eine Diagnose erfüllt sein musste, führte zu einem Anstieg der Diagnosen.
Neu war außerdem eine Erweiterung der PDD um die PDD-NOS (Not otherwise specified, nicht näher spezifiert), dem sogenannten atypischen Autismus, der sich entweder mit allgemein milderen Symptomen oder mit nicht allen Symptomen als vorhanden manifestiert).
Im 1994 erstellten DSM-IV kam eine neue Kategorie dank dem österreichischen Arzt Hans Asperger hinzu, das Asperger-Syndrom. PDD-NOS und Asperger-Syndrom bilden Autismus nun als ein Spektrum verschiedener Schweregrade von Autismus. Technisch gesehen zählte das Asperger-Syndrom nicht als eigenständige Autismus-Kategorie, sondern war als 1 von 5 Störungen unter PDD aufgeführt:
- Autismus-Störung
- PDD-NOS
- Rett-Syndrom
- Asperger-Syndrom
- Heller-Syndrom (desintegrative Psychose, childhood disintegrative disorder, CDD)
Asperger-Syndrom wurde bald als die hochfunktionale Form von Autismus (HFA) verstanden.
Im revidierten DSM-IV-R, der 2000 bekannt wurde, verwendete man PDD und ASD (Autism Spectrum Disorder) als austauschbare Begriffe. Aufgrund dieses Spektrums wurde Autismus zunehmend als Epidemie wahrgenommen, denn jetzt erhielten auch Kinder, die bisher nur die Diagnose Sprachentwicklungsstörung oder geistige Behinderung erhalten haben, die Diagnose Autismus.
Als Temple Grandin in den 1980ern die ersten Vorträge über Autismus erhielt, waren vor allem Betroffene mit den schwereren Erscheinungsform (nonverbal) zugegen. Heute sind dagegen jene viel häufiger, die sich durch extreme Schüchternheit und schwitzige Hände auszeichnen, die eher dem Typ Temple Grandins entsprechen.
Ein peinlicher Fehler ist wahrscheinlich Mitverursacher der vermeintlichen Autismus-Epidemie: ein Tippfehler. Im 1994 erschienenen DSM-IV sollte PDD-NOS folgendermaßen gekennzeichnet werden
eine schwerwiegende und tiefgreifende Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion und bei verbalen und nonverbalen Kommunikationsfähigkeiten.
Tatsächlich erschien in der Ausgabe statt und ein oder. Statt beider Kriterien musste also nur eines von beiden für die Diagnose PDD-NOS erfüllt werden. Erst in der Revision von 2000, also 6 Jahre danach, korrigierte man den Fehler.
Die Summe aus
- gelockerten Standards
- Zusatz von Asperger-Syndrom und PDD-NOS und Autismusspektrumstörung
- erhöhte Wachsamkeit
- Tippfehler
resultierten in einem sprunghaften Anstieg der Autismus-Diagnosen.
Hinzu kommen möglicherweise tatsächliche Veränderungen der Umwelteinflüsse, dass die Eltern zu einem immer späteren Lebensalter Kinder bekommen, was die Anzahl der Genmutationen in den Spermien zu beeinflussen scheint, sowie bessere Serviceleistungen, weswegen Eltern mehr Anstrengungen unternehmen, für ihr Kind eine Autismus-Diagnose zu bekommen.
Alles in allem führt das zu einem Anstieg der Zahlen, so ging man für die USA im Jahr 2002 von 1 Autist pro 150 Kinder aus, 2006 schon von 1 auf 110 Kinder und 2008 bereits von 1 auf 88 Kinder.