4. Kapitel: Verstecken und Suchen

Im vierten Kapitel von „The autistic brain“, „Verstecken und Suchen“,  widmet sich Temple Grandin ganz den sensorischen Reizen, jenem Merkmal von Autismus, das erst im DSM-V als Kriterium aufgenommen wurde. Es erregte auch deswegen meine Aufmerksamkeit, weil auf der kürzlich stattgefundenen Bundestagung von Autismus Deutschland e.V. von einer Vortragenden, der Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Inge Kamp-Becker, „sensorische Auffälligkeiten bei Autismus als Klischee bezeichnet [wurden]. Sie seien eher an ein niedriges Funktionsniveau gebunden.“ (Quelle)

Temple Grandin beginnt mit ihren eigenen Sensitivitäten gegenüber bestimmten Geräuschen und schreibt etwa von frühkindlichen Autisten, die sich durch Bewegungen gestört fühlen. Autisten erhalten dieselben sensorischen Informationen wie andere Menschen auch, nur interpretiert das Gehirn diese verschieden. Seit 30 Jahren (1983) hält Grandin Vorträge über Autismus und sprach von Beginn an Probleme mit Sinneseindrücken an.

Etwas Statistik:

  • 9 von 10 Autisten leiden unter einer oder mehreren Sinnessstörungen.
  • Selbst unter nichtautistischen Kindern leidet mehr als die Hälfte darunter.
  • 1 von 6 haben bedeutende Schwierigkeiten im Alltag.
  • 1 von 20 werden mit sensory progressing disorder (Sinnesverarbeitungsstörung) diagnostiziert, was eine chronische und beeinträchtigende Wahrnehmungsstörung bedeutet.

Sie stellte etwa fest, dass von 60 nichtautistischen Schülern/Studenten mindestens 1 oder 2 Probleme haben, ein catte-handle system zu zeichnen. Statt sanfter Kurven zeichneten sie verschnörkelte Linien und berichteten, dass die Buchstaben vor ihren Augen tanzen und hüpfen.

2011 stellten Forscher fest, dass Sinnesprobleme bei Autisten allgegenwärtig sind. Umso überraschender ist es, dass bisher sehr wenig darüber geforscht wurde. Die meisten Studien gab es noch in nichtautistischen Journalen. 2011 erschien ein 1400-seitiges Buch über Autismus, bestehend aus 81 Artikeln. Ein einziger Artikel behandelte das Thema Sinnesreize – geschrieben von Temple Grandin. Die Forscher verstehen bis dato nicht die Dringlichkeit dieser Probleme, dass jede neue Situation, egal ob sie eine Bedrohung darstellt oder nicht, mit einem Adrenalinschub verbunden ist. Was die Forscher bisher am meisten interessierte, war die Theory of Mind und wie Autisten soziale Kontakte knüpfen können: Forscher sind menschliche Wesen und die soziale Komponente spricht entsprechend eine wichtige Rolle. Die Frage lautet aber: Wie kann man soziale Kontakte knüpfen, wenn man Schwierigkeiten hat, in ein (lautes) Restaurant zu gehen? Manche Forscher behaupten sogar, diese sensorischen Auffälligkeiten seien nicht real (Halluzinationen). Tatsächlich reagieren Autisten nur auf bestimmte Arten von Geräuschen. Nicht jeder Autist, der unter Reizüberflutung leidet, reagiert auf Reize in der gleichen Art und Weise noch leidet er im gleichen Ausmaß.

Fazit: Diese Sinnesüberreizung ist real, kommt häufig vor und erfordert Aufmerksamkeit.

Früher wurden drei Kategorien/Subtypen von Sinnesüberreizungen geschaffen:

  • 1) Suchen von Sinnesreizen: Wie schmeckt etwas, wie riecht etwas? Autisten suchen die ganze Zeit, sie können davon nicht genug bekommen. Sie regen diese Suche an, in dem sie stimming betreiben (mit den Händen flattern, schaukeln, etc…)
  • 2) Überreaktion auf Sinnesreize: kann bestimmte Geräusche oder Gerüche oder Berührungen nicht ertragen
  • 3) Unterreaktion auf Sinnesreize: reagiert nicht auf Schmerz oder wenn der eigene Name gerufen wird

Ab dem Jahr 2010 überdachte man diese Kategorien, dazu erschien ein Paper namens „Sensory processing subtypes in autism: association with adaptive behavior“:

Die neuen Kategorien lauteten:

  • 1) Suchen von Sinnesreizen:  führt zu verringerte Aufmerksamkeit bzw. überfokussiertem Verhalten
  • 2) Sinnesregulierung: Über/Unterreaktion auf Bewegungen bzw. niedrige Muskelspannung
  • 3) Sinnesregulierung: Über/Unterreaktion auf Geschmack und Gerüche

Das Problem liegt allerdings nicht darin, wie man die Daten interpretiert, sondern in den Daten selbst.

Bisherige Studien basieren auf den Aussagen von Eltern oder Betreuern, warum sollte man annehmen, dass all diese Interpretionen das widerspiegeln, was tatsächlich in den Betroffenen selbst vorgeht?

Der Einfluss von Reizüberflutung wird unterschätzt und das Verhalten als Ausdruck eines Sinnesproblems misinterpretiert, wenn es sich tatsächlich um ein anderes handeln könnte.

Selbstaussagen werden von den Wissenschaftlern meist zurückgewiesen, weil sie subjektiv sind, dabei kann nur eine Person die erlebten Sinneseindrücke beschreiben und niemand von außen.

Wenn nur verbale („hochfunktionelle“) Autisten über ihre Sinnesprobleme berichten, ist das nicht repräsentativ für das ganze Spektrum. Sensorische Überreizungen könnten bei niedrigfunktionellen Autisten heftiger sein, sie könnten sogar die Ursache für die Niedrigfunktionalität sein.  Erwachsene Autisten haben meist Bewältigungsstrategien entwickelt, mit Überreizungen umzugehen, weswegen dieses Problem nicht mehr so wahrgenommen wird. Tablets könnten von nichtverbalen Autisten verstärkt benutzt werden, um sich mitzuteilen. Gerade bei schweren Autismusgraden kann der Schritt, etwas auf der Tastatur einzugeben, und dann am Bildschirm das Geschriebene zu sehen, bereits zu viel sein, während man beim Tablet durch die Berührung sofort sieht, was man eingibt, ohne den Kopf drehen zu müssen.

Solange dies noch nicht genutzt wird, muss man sich an zwei Selbstaussagen von nichtverbalen Autisten handeln.

1) Tito Rajarshi Mukhopadhyay, der seinen „locked-in“ Autismus schon in Büchern verarbeitet hat.

Er betrachtet die Realität durch das „handelnde Ich“ und durch das „denkende Ich“.

In einem Gespräch mit Grandin antwortete er etwa auf drei kurze Fragen und rannte nach jeder Frage mit den Armen flatternd durch den Raum. Sein handelndes Ich war in Aktion, von außen als Stimming wahrgenommen. Er sieht sein handelndes Ich als seltsam und voller Handlungen, sieht aber nur Teile von sich, etwa ein Bein oder eine Hand. Durch sein Flattern setzte er die Teile zu einem Ganzen zusammen.  Das denkende Ich ist dagegen angefüllt mit Lernen und Gefühlen, manchmal auch mit Frustrationen, etwa wenn ihm abgesprochen wird, er wüsste nicht, was um ihn herum passiert. Das handelnde Ich äußert sich durch Stimming, das denkende Ich beobachtet das handelnde Ich beim Herumflattern.

2) Carly Fleischmann (2012)

Ihr denkendes Ich nimmt deutlich mehr Informationen auf als gedacht, was zu einem sensory overload (Sinnesüberladung) führt. Sie reagiert auf zwei Arten: Entweder mit einem shutdown, sie reagiert nicht mehr, wird passiv. Oder sie rastet aus, fängt an zu lachen, schreien oder verrückt zu werden. Von außen interpretiert man es als Unterreaktion, wenn sie nicht mehr zuhört, und als Überreaktion, wenn sie ausrastet. Tatsächlich hat das gegensätzliche Verhalten die gleiche Ursache: Zu viel Information.

Fazit:

Nonverbale Autisten könnten  sich viel stärker mit der Welt auseinandersetzen als es den Anschein hat.  Der Unterschied zwischen der Sicht des Beobachters und der subjektiven Erfahrung – zwischen handelndem und denkenden Ich – ist der Unterschied wie ein Sinneswahrnehmungsproblem aussieht und wie es sich tatsächlich anfühlt. Demzufolge wäre die Unterscheidung für die Person selbst zwischen Unter- und Überreaktion bedeutungslos, das Gleiche gilt für Über- und Unterfokussierung. Sich etwa auf den Augenkontakt zu konzentrieren, heißt dennoch die Umwelt wahrzunehmen. Deswegen schauen manche vorbei, weil das weniger anstrengend ist.  Das ist allerdings vorläufig nur eine Hypothese.

Forscher griffen diesen Gedanken später auf, bezeichneten ihn als „intense world problem“ (2007) oder „eine Welt, die sich zu schnell ändert“ (2009).

Die Lektion ist:

  • 1. Das Gehirn erhält zu viel Information.
  • 2. Das handelnde Ich schaut aus, als ob es nicht mehr reagiert (Unterreaktion)
  • 3. Das denkende Ich ist überwältigt.

Das handelnde Ich sieht verlangsamt aus, während das denkende Ich das Gegenteil empfindet.

Wenn Hyper- und Hyporeaktion zwei Seiten derselben Medaille sind, dann hat das auch Auswirkungen auf …

  • 1) Medikamentöse Behandlung: Die zielt meist darauf ab, neuronale/kognitive Funktionen zu verstärken, während autistische Gehirne beruhigt werden müssen, z.B. durch Antidepressiva.
  • 2) Erziehung: Die Unfähigkeit, Gesichtsausdrücke zu verstehen, verbessert sich, wenn die Autisten genügend Zeit bekommen, diese zu verstehen.
  • 3) Theory of Mind: Zu viel Information kann auch auf die Amygdala Auswirkungen haben, bestimmte Reaktionen sehen antisozial und mitgefühlslos aus, drücken tatsächlich aber nur Angst aus.

Nachfolgend geht Grandin noch auf die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen ein und zählt auch zahlreiche Aussagen von Betroffenen auf.

1) Probleme mit der optischen Wahrnehmung

Das sogenannte Irlen-Syndrom: Weißes Papier ist grell und kann lichtempfindliche Menschen beeinträchtigen, etwa auch beim Lesen kontrastreicher Schrift. Farbiges Papier oder Linsen (Brillengläser) schaffen Abhilfe [ein Grund, weshalb lichtempfindliche Autisten Brillengläser tragen, selbst wenn der Himmel bedeckt ist, oder zuhause am Computer].

2) Probleme mit dem Hören

Wenn Autisten auf Tonsignale hören, bleibt ihr visueller Cortex (Sehrinde) aktiver als bei Nichtautisten, sie werden immer noch von der Umgebung abgelenkt.

Therapeutische Fortschritte verspricht die Musiktherapie: Die Gehirnregionen, die für Sprache und Musik zuständig sind, überschneiden sich großteils.

2012 hat man 36 nonverbale Autisten mit 21 Nichtautisten verglichen. Bei der Sprachstimulierung war die Aktivität im left inferior frontal gyrus (der Teil des Gehirns, der mit der Sprache zusammenhängt) bei Autisten gegenüber den Kontrollpersonen vermindert, beim Singen war sie im selben Bereich sogar aktiver als bei den Kontrollpersonen. 2005 stellte eine Studie fest, dass sich durch Musiktherapie nahezu alle autistischen Symptome verbessern. Das ist nicht unbedingt verwunderlich, zählt Musik machen bzw. wahrnehmen doch zu den relativen Stärken von autistischen Individuen.

Schlussfolgerung:

Wenn man wissen möchte, was die Symptome von Autismus bedeuten, muss man einen Blick ins Gehirn werfen. Aber moment … basiert nicht die Diagnose von Autismus auf dem Verhalten? Die ganze Annäherung an Autismus ist die Folge dessen, wie er von außen betrachtet ausschaut (–> handelnde Ich) statt wie er sich von innen anfühlt (denkendes Ich). Grund genug, das autistische Gehirn zu überdenken (–> nächstes Kapitel).

Bisher zusammengefasste Kapitel:

1. Geschichte der Autismus-Diagnosen

2. Gehirnforschung

3. Sequenzierung des Gehirns