Vor wenigen Monaten stieß ich dank einer Asperger-Autistin auf das Buch „The Autistic Brain“ von Dr. Temple Grandin, führende Expertin für Viehhaltung, Wissenschaftlerin und Dozentin für Tierwissenschaften, und Autistin. Sie ist der Ansicht, dass Autisten eine spezielle Denkweise haben, die sich in die drei Typen Denken in Wortfakten (word-fact thinking), in Mustern (pattern thinking) und in Bildern (visual thinking) aufteilen lässt. Sie hält fest, dass Autismus individuell stark verschieden ist, dass Probleme mit Reizüberflutung stärker in den Mittelpunkt der Forschung und Therapien rücken sollten, und dass die Stärken von Autisten nicht als Nebenprodukt einer schlechten Verdrahtung, sondern als Produkt der Verdrahtung im Gehirn aufgefasst werden können.
Ich habe das Buch auf Englisch gelesen und kapitelweise zunächst auf Englisch zusammengefasst, und dann interessante Passagen zusammengefasst, teils mit eigenen Worten, teils mit direkten Übersetzungen oder Zitaten.
Zusammenfassung und Übersetzung:
1. Geschichte der Autismus-Diagnosen (The Meanings of Autism)
2. Gehirnforschung (Lighting Up the Autistic Brain)
3. Sequenzierung des Gehirns (Sequencing the Autistic Brain)
4. Verstecken und Suchen (Hiding and Seeking)
5. Hinter die Labels schauen (Looking Past the Labels)
6. Kenne Deine Stärken! (Knowing your own strengths!)
7. Umdenken in Bildern (Rethinking in pictures)
8. Von den Rändern zur Mitte (From the Margins to the Mainstream)
Die Zusammenfassung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da ich davon ausgehe, dass das Buch ohnehin auf Deutsch erscheinen wird, und sich es interessierte Leser, die nicht so gut Englisch können, dann kaufen können. Meine Übersetzungen dürften aber einen guten Überblick über die wesentlichen Inhalte liefern, zumal sie für Betroffene und Angehörige und für Interessierte generell, doch einige neuen Erkenntnisse bereitstellen könnten.
Warum auf diesem Blog?
Weil sich im Spektrum der XXY im Vergleich zur 46,XY-Bevölkerung gehäuft Autisten befinden, je nach Studie und gefundenen Zahlen bei Selbsthilfevereinen zwischen 30 und 50 %. XXY-Männer tendieren übereinstimmend nach mehreren Vereinen und Aussagen von Betroffenen zu Geräuschempfindlichkeit und anderen Überempfindlichkeiten, auch der Gleichgewichtssinn ist häufiger betroffen – unter den Oberbegriff Sensory Integration Disorder bekannt. Wie besonders Kapitel 4 herausstreichen wird, ist die Über- oder Unterreaktion auf Reize bei Autisten ein zentrales Kernsymptom.
Das Chaos um die Einführung des neuen Diagnosehandbuchs DSM-V (2013), das den DSM-IV (seit 1994) ablösen wird, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. In den Niederlanden werden 30 % der XXY-Männer mit PDD-NOS (Pervasive Development Disorder – Not otherwise specified) diagnostiziert, die im DSM-IV neben dem frühkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom zur Autismus-Kategorie zählt. Im DSM-V existieren Asperger und PDD-NOS nicht mehr, alles zählt zum Autismus-Spektrum (englisch: autism spectrum disorder, kurz ASD), welches in drei Schweregrade eingeteilt wird; dafür gibt es neue „mildere“ Diagnosen, Verhaltensstörungen, Impulsstörungen, die zu einer Inflation bei Diagnosen führen wird. Die Tragweite und Verantwortungslosigkeit dahinter wird in Kapitel 5 beschrieben, sowie in Allen Frances – Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen.
Gerade wegen den vielen Diagnosen und natürlich auch Ängsten und Sorgen vor Stigmatisierung der Angehörigen und Betroffenen, aber vielleicht auch Müttern, die durch einen Gentest wissen, dass ihr Kind XXY sein wird, finde ich die Argumentation von Temple Grandin äußerst wertvoll und hilfreich. Viele grundsätzlichen Schlussfolgerungen lassen sich auch auf andere psychiatrische Diagnosen übertragen, ebenso auf Symptome, die unter Klinefelter-Syndrom aufgelistet sind. Das betrifft nicht nur Defizite, sondern auch Stärken und Talente!
Der Umstand, dass wir mit dem Chromosomensatz 47,XXY geboren werden statt mit 46,XY, sagt noch keine düstere Zukunft vorher. So weitreichend das Spektrum unter Autisten ist, so vielfältig ist es auch unter den XXY. Nicht, dass hier Missverständnisse aufkommen: XXY ist nicht Autismus. Es gibt XXY-Männer, die keine Probleme mit Sinnesreizen haben, die Interesse an Mitmenschen haben, die normal kommunizieren, sich einen Partner und Kinder wünschen, die nicht weiter auffallen. Genauso gibt es aber auch XXY-Männer, die im autistischen Spektrum liegen, die sich aber ebenfalls sehr voneinander unterscheiden, in körperlicher und psychischer Ausprägung.
Grandins Buch ist ein Appell gegen Verallgemeinerungen: Betrachtet das Individuum und nicht Eure Vorurteile gegenüber dem Überbegriff einer Diagnose. Wenn man bedenkt, wie wenig man bei XXY über die Zuverlässigkeit und Methoden der Behandlung mit Testosteron (siehe z.B. Host et al., 2014) weiß, und wie viel weniger über sensorische Reize (siehe z.B. Van Rijn et al., 2011) und emotionale Tragweite (siehe z.B. Bruining et al., 2009), obwohl man seit rund 60 Jahren von dieser genetischen Veranlagung weiß, dann warne auch ich davor, die wissenschaftlichen Ergebnisse, die man vor 30 Jahren gesammelt hat, als unumstößliche Fakten hinzustellen. Das Rad der Wissenschaft dreht sich stetig weiter.
Es ist ein Dilemma, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse kaum in die Behandlung und Therapien einfließen, und das hat verschiedene Gründe: widersprüchliche Ergebnisse aus den Studien selbst, die Diagnoseinflation, wodurch die Studienergebnisse verfälscht werden, weil sich die Zahl/Schwere der Symptome ändert, der Niedergang einer angemessenen, den Patienten die notwendige Aufmerksamkeit schenkenden ärztlichen Behandlung, weil alles kaputt gespart wird, weil Kassenärzte und -therapeuten überlastet sind, viel Papierkram erledigen müssen, trotzdem nicht mehr Zeit haben, sich fortzubilden oder dem Patienten mehr als 5 Minuten zuzuhören, weil längst eine Zwei-Klassen-Medizin vorherrscht,etc.
Auch aus diesem Hintergrund finde ich praktische Tipps, wie sie Grandin etwa am Ende des Buches liefert (Kapitel 8) noch hilfreicher, als sich aus einem „Menü“ diverser Symptome eine Pauschaldiagnose zusammenzustellen, für die es dann genau eine Behandlung für alle gibt, und individuelle Bedürfnisse ignoriert werden – ohne die Ursachen für die einzelnen Symptome zu kennen und die gleiche Ursache für alle Symptome anzunehmen: Weder gibt es ein einzelnes, auslösendes Autismus-Gen noch sind alle Erscheinungsbilder von XXY alleinig dem Testosteronmangel zuzuschreiben. Natürlich bedeutet das nicht, dass gleiche Merkmale bei Autisten und XXY gleiche genetische Ursachen haben müssen. Für den Betroffenen spielt das im Alltagsleben aber keine Rolle, sofern die Testosteronbehandlung diese Merkmale nicht korrigiert – das ist dann mehr von akademischen Interesse.
Mein Appell an die Leser lautet also:
Seid neugierig gegenüber neuen Erkenntnissen!
Seid immer kritisch gegenüber dem Hintergrund jeglicher Erkenntnisse (wer gab die Studie in Auftrag, was berücksichtigen Statistiken? Sind die Methoden und Behandlungen vergleichbar? Gibt es andere Faktoren? etc…)!
Seid auch kritisch gegenüber den bis jetzt vorliegenden Erkenntnissen!
Auch eine tendenziöse Studie kann neutrale Erkenntnisse liefern, wenn man nur die Daten betrachtet, nicht aber die Interpretation der Daten. Letzteres geschieht aber dadurch, dass man alles glaubt, was der Arzt zu einem sagt – nur weil er Arzt ist. Wenn man jedoch die Vielfalt der Meinungen in den Studien sieht, dürfte es bei den praktizierenden Ärzten kaum anders sein.
Deswegen: Traut Euch und stellt Fragen!
Vielen Dank für die Zusammenfassung des Buches. Ich hoffe auch, dass dieses Buch übersetzt wird, es gab schon lange keine Buch mehr von ihr in deutscher Sprache. Alle anderen Bücher von Temple Grandin gibt es bei mir unter http://www.autismus-buecher.de – und weitere Bücher über Autismus.
Deinen Beitrag habe ich verlinkt unter http://www.autismus-buecher.de/temple.htm
Vielen Dank, das freut mich sehr! Auch Animals in Translation ist sehr lesenswert, es hilft auch, Tiere allgemein besser einzuschätzen (etwa, wenn man eine Kuhweide durchquert oder auf freilaufende Hunde trifft).