8. Kapitel: Von den Rändern zur Mitte

Im achten und letzten Kapitel von Temple Grandins The Autistic Brain, From the Margins to the Mainstream, geht es um das Thema Talente, Erfahrung und Fleiß, und um ein paar abschließende Ratschläge an Autisten, mit dem Alltagsleben besser klarzukommen.

Die Beziehung zwischen Natur und Fördern wurde in den vergangenen Jahren immer populärer, etwa die 10 000 Stunden-Regel. Die Regel besagt:

Um in einem Bereich ein Experte zu werden, muss man zumindest X Stunden Arbeit hineinstecken.

Oder banaler ausgedrückt: Üben, üben, üben!

Grandin stellt klar, dass man keine natürliche Begabung für einen bestimmten Job besitzt, weil zielgerichtete natürliche Begabungen nicht existieren. Üben alleine reicht nicht für ein Talent. Temple Grandin hatte Zugang zu demselben Computerterminal wie Bill Gates, aber wurde trotzdem kein Computergenie – weil sie eine andere Art des Denkens hat.

Ihrer Ansicht nach wird Erfolg durch eine Mischung aus Talent und üben bestimmt, üben alleine reicht nicht, denn wenn es im Gehirn Defizite gibt, dann sind diese nicht überwindbar. Neuroanatomie ist keine Bestimmung, ebenso wenig Genetik. Sie sagen nicht, wer man sein wird, aber wer man sein könnte. Es geht also darum, reale Stärken aufzubauen, und das Gehirn so zu formen, dass es das tun kann, was es am besten kann.

Die Plastizität des Gehirns ist nachgewiesen, u.a. an einer Studie von Londoner Taxifahrer, die innerhalb weniger Jahren den Stadtplan auswendig können müssen. Gehirne sind in der Lage, diese Unmengen an Informationen zu speichern, sich zu verändern, aber sie bilden sich auch wieder zurück – wie ein Muskel -, wenn sie nicht trainiert werden.

Grandin hebt die Vorteile der Tablet-Computer hervor:

1. Sie sind cool, es ist nichts mehr, was jemand als behindert stigmatisiert.

2. Sie sind deutlich günstiger als Geräte zur Kommunikationsunterstützung für Autisten in Klassenräumen.

3. Man sieht direkt, was man tippt oder schreibt, ohne die Verzögerung vom Schauen auf die Tastatur und dann zum Bildschirm.

Und sie liefern unzählige Anwendungsmöglichkeiten, Apps, Webinars, etc…

Man darf deswegen nicht die Defizite vergessen, aber in der Vergangenheit wurde so stark auf die Defizite fokussiert, dass man die Stärken aus den Augen verloren hat.

Für Grandin ist Autismus zweitrangig, sie ist in erster Linie Expertin für Vieh, und streicht aus ihrem Kalender explizit Tage heraus, die ausschließlich der „Rinderzeit“ gehören.

„Autismus ist sicherlich ein Teil von mir, aber ich lasse es nicht zu, mich darüber definieren zu lassen.“

Dasselbe gilt für die undiagnostizierten Asperger-Autisten im Silicon Valley. Sie werden nicht dadurch definiert, dass sie sich im autistischen Spektrum befinden, sondern durch ihre Jobs. Manche Menschen werden dazu natürlich nie Gelegenheit haben. Ihre Einschränkungen sind zu schwerwiegend, als dass sie sie bewältigen können. Aber was ist mit denen, die dazu in der Lage sind? Und was ist mit denen, die zwar nicht dazu in der Lage sind, aber die produktivere Leben führen könnten, falls man ihre Stärken identifizieren und kultivieren könnte?

Eine Möglichkeit dies herauszufinden ist die der verschiedenen Denkweisen: Denken in Wörtern, Denken in Mustern, Denken in Bildern.

Bildung

Grundschüler zusammen zu unterrichten, ist gut für die Sozialisierung. Aber wenn man alle Schüler, Autisten und Nichtautisten, in einer Klasse unterrichtet und sie alle gleich behandelt, ist das ein Fehler: Der Autist steht alleine, wird an den Rand gedrängt, bis man sich dazu entscheidet, ihn in eine Sonderschule zu bringen, wo er mit einem Haufen nichtverbaler Kinder unterrichtet wird.

Grandin nennt ein Beispiel aus ihrer Schulzeit. Sie verdankt sehr viel ihrem damaligen Wissenschaftslehrer, der ihre Stärken in Mechanik und Ingenieurswesen erkannte. Aber in einem Punkt irrte er sich: Als er sah, dass Grandin Schwierigkeiten mit Algebra hatte, verdoppelte er seine Anstrengungen. Er verstand nicht, warum ihr Gehirn nicht auf dem abstrakten, symbolischen Weg funktionierte, welcher das Lösen von X voraussetzt. Was er hätte tun können: Sie nicht dahingehend zu drängen, was nicht funktionierte, sondern sich auf ihre Stärken zu konzentrieren. Ingenieurswesen ist nicht abstrakt, sondern konkret, mit Formen und Winkeln, es handelt von Geometrie.

Aber nein. Der Lehrplan sagt, Algebra kommt vor Geometrie, und Geometrie kommt vor Trigonometrie usw. Vergiss nie, dass Du kein Algebra brauchst, um Geometrie zu lernen.

Sich auf die Stärken konzentrieren, sie vorziehen können, und wenn das Kind mit der Geräuschkulisse in der Kantine nicht umgehen kann, soll es alleine essen.

Die oben genannten Denkweisen kann man bereits im Schulalter erkennen. Ein Kind, das gerne mit Lego spielt, kann sowohl ein visual thinker als auch ein pattern thinker sein, allerdings betrachten sie Lego auf verschiedene Weise:

Der visual thinker möchte Objekte schaffen, die so wie in der Vorstellung aussehen.

Der pattern thinker denkt hingegen darüber nach, wie Teile des Objekts zusammenpassen könnten.

Grandin hatte große Probleme mit textbasierenden Physikaufgaben. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das Problem aussieht, da ihr Arbeitsgedächtnis überfordert war. Würde sie jedoch spezifische Beispiele des Problems mit verschiedenen Formeln vergleichen, könnte sie die Muster der Probleme erkennen.

Pattern thinker können das intuitiv, sie sind viel schneller damit, solche Probleme zu lösen und sind daher eher talentiert in Musik oder Mathematik. Sie verstehen die Form hinter einer Funktion, sie können Probleme mit dem Lesen haben, hängen ihre Mitschüler in Algebra jedoch weit ab, ebenso in Geometrie. Word-fact thinker sind jene, die seitenweise Monologe halten, die Filmzitate bringen, einen Fahrplan auswendig herunterrattern. Es wird wenig bringen, sie im Kunstunterricht durchzudrücken. Ihre Stärken liegen im Schreiben. Sie neigen aber dazu, Überzeugungen zu entwickeln, von denen sie nicht leicht abzubringen sind, im Internet ist daher Vorsicht geboten, wenn man sie einen Blog entwickeln lässt. Entsprechend ihrer Denkweise lassen sich die Kinder und später junge Erwachsene auch auf das Berufsleben vorbereiten.

Zum Abschluss bringt Grandin noch ein paar wichtige Kommentare bezüglich der hohen Arbeitslosigkeit unter Autisten:

1. Keine Ausreden!

„Ich bin nicht interessiert an…“ ist keine gute Entschuldigung. Es bedeutet bloß, dass man härter arbeiten muss als andere, um eine Aufgabe zu erledigen. „Ich habe eine Lernbehinderung“ ist eine noch schlechtere Entschuldigung, wenn Desinteresse dahintersteckt.

2. Stell Dich gut mit anderen (Play well with others)

Sie hört zu viele Asperger-Autisten sagen, dass sie Probleme mit der Authorität hätten. Es gibt einen Grund, warum der Chef Chef heißt – weil er der Chef ist. Beschwerden also direkt an ihn, nicht an ihm vorbei.

Es geht nicht nur darum, Konfrontationen zu vermeiden, sondern anderen auch eine Freude zu machen.

3. Regele Deine Emotionen

In dem man lernt, zu weinen. Du musst nicht vor Publikum heulen, oder vor Deinen Kollegen. Aber wenn es nur die Wahl gibt, auszuflippen oder zu heulen, dann heule. Buben, die heulen, können für Google arbeiten. Buben, die ihre Computergeräte zerstören, nicht.

Aus neurowissenschaftlicher Sicht wird die Emotionsregelung vom Frontallappen top-down gesteuert. Wenn man die Emotion nicht kontrollieren kann, muss man sie verändern. Wenn man seinen Job behalten will, muss man lernen, Wut in Frustration umzuwandeln.

4. Denke an Dein Benehmen

Selbst wenn man bereits erwachsen ist, ist es nie zu spät, zu lernen, welche Äußerungen unpassend oder verletzend sind.

5. Verkaufe Deine Arbeit, nicht dich selbst.

Personalabteilungen sind üblicherweise von Leuten besetzt, die den Schwerpunkt auf Teamfähigkeit legen, sie könnten daher denken, dass ein Autist nicht geeignet sei. Sie könnten nicht dazu in der Lage sein, die verborgenen Talente hinter dem sozial sonderbaren Verhalten zu erkennen. Eine bessere Strategie könnte es sein, direkt zum Leiter der Abteilung Kontakt aufzunehmen, in die man möchte (auch „Vitamin B“, B = Beziehungen, genannt). Es kann außerdem nicht schaden, seine Stärken in Form von Portfolios oder Broschüren darzustellen, und mittels der modernen Handytelefonie kann man diese ständig mit sich führen und ggf. anderen zeigen.

6. Nutze Mentoren

Viele erfolgreiche Asperger-Autisten sagten, sie hatten einen Mentor, einen Lehrer, der ihre Stärken erkannte und fokussierte.

Fazit:

Statt rein nach den Defiziten zu gehen, sollte man von Gehirn zu Gehirn schauen, von Stärken zu Stärken, dann sind autistische Arbeitnehmer keine Fälle aus Nächstenliebe, sondern wertvolle Beitragende zur Gesellschaft.

Wenn jemand nicht gerne telefonieren mag, sondern lieber per E-Mail kommuniziert, dann sollte man ihm diese Möglichkeit zugestehen, solange er die Leistung erbringt.

Beispiele für die einzelnen Denkweisen:

Visual thinker Pattern thinker Word-fact thinker
Architekt Programmierer Journalist
Fotograf Ingenieur Übersetzer
Tiertrainer Physiker Bibliothekar
Graphikkünstler Musiker Börsenanalyst
Schmuckdesigner Statistiker Buchhalter
Meteorologe Mathematiklehrer Sprachtherapeut
Automechaniker Chemiker Historiker
Landschaftsplaner Forscher Jurist
Biologielehrer Elektriker Schriftsteller
Tiertrainer Versicherungsstatistiker Reiseleiter

„I know that trying to imagine where we’ll be sixty years from now is a fool’s errand. But I have confidence that whatever the thinking about autism is, it will incorporate a need to consider it brain by brain, DNA strand by DNA strand, trait by trait, strength by strength, and maybe, most important of all, individual by individual“

Ich weiß, dass die Vorstellung, wo wir in 60 Jahren sein werden, aussichtslos ist. Aber ich vertraue darauf, dass die Ansichten über Autismus die Notwendigkeit miteinschließen werden, es von Gehirn zu Gehirn, von DNA-Strang zu DNA-Strang, von Eigenheit zu Eigenheit, von Stärke zu Stärke zu betrachten – und vielleicht, was von alledem das Wichtigste ist: von Individuum zu Individuum.

Die davor zusammengefassten Kapitel:

1. Geschichte der Autismus-Diagnosen

2. Gehirnforschung

3. Sequenzierung des Gehirns

4. Verstecken und Suchen

5. Hinter die Labels schauen

6. Kenne Deine Stärken!

7. Umdenken in Bildern

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